Dornenkuss
gemeinsame geistige Ebene haben. Es gibt Momente, in denen wir exakt das Gleiche sehen und spüren, Ellie. Und es passiert meistens dann, wenn du mal nicht ununterbrochen nachdenkst und grübelst. Du wirst es spüren können, wenn ich mich ihr zu sehr ergebe, bevor es sichtbar wird. Ich traue das nur dir zu. Niemand anderem. Weißt du noch, die Nacht in Hamburg, als wir getanzt haben? Wir hatten die gleiche Vision. Es hat keinen Unterschied mehr zwischen uns gegeben – bis auf den einen, dass deine Müdigkeit stärker als meine war. Vermutlich weil deine Trance schwächer ausfiel. Oder nimm den Abend im Wald, in meinem Schwitzzelt … den Moment, als François die Wand hochkroch … unsere Panik, nachdem wir Colin bei seinem Traumraub beobachtet haben …«
»Ich hab es verstanden«, unterbrach ich ihn murrig. Mir schmeichelte sogar, was er sagte. Ich hasste nur die Konsequenz, die daraus resultierte. »Was für Nebenwirkungen hat das Zeug eigentlich?«
»Keine Nebenwirkungen. Es gibt nur Wirkungen. Der Begriff ›Nebenwirkung‹ ist eine Erfindung der Pharmaindustrie. Ich werde dir nicht sagen, wie genau es wirkt und was passieren kann, weil du den Rausch sonst nicht mehr genießen kannst«, belehrte mich Tillmann. »Dann wirst du dir irgendwelche Begleiterscheinungen einbilden, bevor es überhaupt begonnen hat.«
»Ich werde es sowieso nicht genießen können. Ich kann es doch gar nicht mehr steuern!« Der Begriff »Pilot« war ein schlechter Witz. Niemand von uns würde eine Route vorgeben können, geschweige denn sie befolgen.
»Du widersprichst dir. Genießen bedeutet, etwas nicht mehr zu steuern. Wie machst du das denn beim Sex – denkst du da auch über alles tausendmal nach?«
Ich schwieg verlegen. Früher hatte ich das wirklich getan. Ich hatte schlichtweg nicht aufhören können zu denken. Mir war es sogar vorgekommen, als hätte ich noch mehr nachgedacht als ohne Fummeleien.
»Ellie, ich kann mir echt nicht vorstellen, dass Colin mit einer Frau Sex hat, die kein bisschen abschalten kann. Das muss ihm doch sämtlichen Appetit versauen. Mir würde es das übrigens auch.«
»Ja, okay«, nuschelte ich. »Bei ihm kann ich es.« Wir hatten zwar heute Nacht nicht miteinander geschlafen, waren uns aber sehr nahe gewesen. Das ein oder andere Hochgefühl hatten mir seine geschätzten siebzehn erfahrenen Hände verschafft. Und ich ihm mit meinen zwei unerfahrenen Händen anscheinend auch. Ohne dass ich es sofort analysiert und bewertet hätte.
»Dann betrachte es wie Sex. Lass dich darauf ein. Wir passen aufeinander auf, vertrau mir. Es ist Natur, sonst nichts. Kein synthetischer Kram. Du musst dich ihr nur ergeben. Das Gute und gleichzeitig Schlechte an einem Rausch ist, dass er irgendwann verfliegt. Vielleicht beruhigt dich das ja. Ich verlange es nicht von dir, aber … es ist sicherer. Für uns alle. Ich will kein Mahr werden, Ellie.«
»Ich auch nicht«, erwiderte ich mit dünner Stimme, obwohl es einiges leichter gemacht hätte.
»Wir können dabei Musik hören. Musik ist großartig, wenn man die Pilze genommen hat. Manchmal wird sie sogar farbig …«
Farbig? Das klang abenteuerlich. Von diesem Phänomen hatte ich schon gehört. Synästhesie. Es gab Menschen, die ganz ohne Drogen den Tönen, die sie hörten, Farben zuordnen konnten. Der Gedanke, vertrauten Klängen zu lauschen, während ich mich mit Tillmann auf einen Trip begab, besänftigte mich etwas.
»Moby? Können wir Moby hören?«
Tillmann verzog leidend sein Gesicht. »Von mir aus. Ist vielleicht gar nicht so schlecht dafür. Es darf nichts Lautes und Hektisches sein.«
Nein, das Album, das ich meinte, war nicht hektisch. Sondern Moby, wie ich ihn kannte und wie er meiner Meinung nach sein sollte.
Noch war das alles sowieso nicht greifbar. Wenn Gianna recht hatte, würde Tessa nicht kommen. Dann würden wir noch ein paar Tage warten und nach Hause fahren. Oder ich würde allein hierbleiben, mit Colin. Was Colin nicht dulden würde … Doch darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.
Fürs Erste war ich froh darüber, dass Tillmann mir nicht seine Freundschaft gekündigt hatte und mich in seine Pläne einbezog, wie er es angekündigt hatte. Wenn auch unter Druck.
Ich streckte meine Beine aus, bis meine Kniekehlen den Boden berührten. Ich hatte meine Waden beim vielen Nachdenken und Diskutieren völlig verkrampft. Wie von selbst rutschte mein Kopf gegen Tillmanns Schulter. Er zog sie nicht weg.
»Ich hab dich vermisst«, gestand ich
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