Dornenkuss
sie mir ansehen musste. Immer wieder tauchte ich auf, holte Luft und ließ mich erneut hinabgleiten, um bei ihr zu sein, ganz nah bei ihr. Ihre Tentakel verursachten hässliche, entzündliche Brandwunden, die einem tagelang das Leben schwer machten, doch warum sollte sie mich mit ihnen streifen? Es gab keinen Grund dazu. Außerdem fühlte sich mein Körper heute so geschmeidig und kraftvoll an, dass ich mir zutraute, ihnen rechtzeitig ausweichen zu können.
Ihre geisterhaft elegante Ästhetik rührte mich. Am Strand, wenn der Sturm sie versehentlich an Land gespült hatte, waren Quallen unansehnliche, glibberige Schleimhaufen. Doch hier, in ihrem Element, zeigte die medusa sich mir als ein Wunderwerk der Evolution, das mich mit Neid und Ehrfurcht erfüllte. Sie schillerte rot, lila und blau in den Sonnenstrahlen, die durch die Wasseroberfläche brachen, und ihre Bewegungen blieben stets anmutig und sanft, waren niemals unkontrolliert oder gar aggressiv. Ich hatte beinahe das Gefühl, dass sie mich ansah und ihr tanzendes, gemächliches Pulsieren sich in meinen Blutbahnen verankerte, friedlich gestimmt durch die ewigen Mächte der Ozeane.
Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte und von den Wellen zurück an den Strand hatte spülen lassen, waren kindische Blödeleien zwischen Paul, Tillmann, Gianna und mir losgebrochen und nur während der Siesta kurz abgerissen. Dieser Tag war ein Geschenk, das man nutzen musste. Schon am Abend sollte der Wind drehen und heißer werden, feinen roten Sand mit sich bringen – Wüstenwind. Scirocco. Ich liebte es, diesen Namen zu hören und auszusprechen. Scirocco. Das klang ein bisschen gefährlich, aufregend, schnittig. Laut Gianna würde es dann unmöglich sein, Volleyball zu spielen. Bei Scirocco wäre selbst Stricken Hochleistungssport. Doch jetzt konnten wir noch Sport treiben – oder wenigstens so etwas Ähnliches wie Sport.
»Genau. Wir spielen Eierball. Wir versuchen gar nicht mehr, echte Punkte zu machen«, erklärte ich Gianna stolz meine neue Taktik. »Wir zielen nur noch auf ihr Gemächt. Dann haben wir wenigstens Spaß, während wir verlieren. Oder wir gewinnen sogar!«
Gianna gluckste auf und zwinkerte mir begeistert zu. »Könnte klappen … Okay, weiter geht’s!«
Wir richteten uns auf und strichen uns aufreizend langsam den Sand von den Pobacken. Erst dann drehten wir uns wieder zu den Jungs um, die uns anglotzten wie Kühe beim Donnern. »Ellie schlägt auf!«
Ich stellte mich in Position und überlegte, wen es als Erstes treffen sollte. Diese Entscheidung war schnell gefallen. Tillmann. Als Strafe. Ja, Tillmann musste bestraft werden. Für seine Egotrips, seine taktlose Klappe, seine Lehrervorträge. Für alles. Ich musste innehalten, um nicht laut loszulachen. Dann wurde ich wieder ernst und starrte drohend auf seine Badehose. Tillmann begann unruhig zu tänzeln, als würde er ahnen, was ich vorhatte. Doch mein Aufschlag saß. Bevor Tillmann seine Arme nach vorne ziehen konnte, um seine Hoden zu schützen, prallte der Ball mit einem satten Blopp zwischen seine Beine und rollte ins Aus. Kreischend schlugen Gianna und ich ein. Nun war es Gianna, die sich mit Argusaugen Pauls Intimbereich zuwandte.
Doch nur wenige Minuten später – nach drei weiteren gelungenen Tieffliegern – dämmerte den Jungs etwas und Paul schlug plötzlich einen Haken, um zu unseren nassen Handtüchern zu sprinten.
»Was hat er denn jetzt vor?«, fragte Gianna atemlos, denn wie ich steckte sie gerade mitten in einem Lachflash. Es sah einfach zu komisch aus, wie Tillmann und Paul versuchten, unseren Bällen auszuweichen. »Oh nein … nein … lauf, Ellie!«
Zu spät. Schon hatte das feuchte, sandige Frottee meine Waden getroffen. Ich kniff Paul in seinen Bauchspeck, doch er hörte nicht auf, mich mit dem Handtuch zu verprügeln, was mich wahlweise noch schlimmer zum Lachen oder aber zu schrillen Protestrufen nötigte. Neben uns gurgelte Tillmann, dem Gianna gerade in purer Notwehr eine Ladung feuchten Sand in den Mund gestopft hatte. Ich hatte derweil endlich Pauls kitzlige Stelle gefunden, nicht unter den Achselhöhlen, sondern in den Kniekehlen, und befreite mich, um meinerseits ein Handtuch zu holen und brüllend auf ihn einzuschlagen. Eine Weile ging das hin und her, bis ich merkte, dass Paul die Oberhand gewann. In einem günstigen Moment wich ich ihm blitzschnell aus und Gianna und ich ergriffen die Flucht. Paul folgte uns, während Tillmann fluchend und spuckend in der
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