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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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wusste ich, dass ich ihm nicht entrinnen konnte, dass es zu meinem Leben dazugehörte, sein musste. Ist das nicht pervers? Dass jedes Kind in die Schule muss, egal, wie sehr es das belastet?«
    »Ich dachte, du wärst immer eine Einserschülerin gewesen.«
    »War ich auch. Es war trotzdem furchtbar für mich. Und so unausweichlich … Wenn ich abends nicht einschlafen konnte, weil ich mich vor dem fürchtete, was unweigerlich kam und dessen Schattenseiten ich schon so gut kannte, hab ich mir vorgestellt, in einem U-Boot durch die Tiefsee zu gleiten. Ein U-Boot nur für mich alleine. Da war es warm und geborgen und mich umgaben dicke Panzerglaswände. Ich konnte mir die vielen bunten Fische ansehen und schlafen, wann ich nur wollte. Niemand konnte mich dort unten erreichen. Ich hatte zu essen und zu trinken …«
    »Hm«, machte Tillmann skeptisch. »Den Film Das Boot hast du nie gesehen, oder? Ein kuscheliges U-Boot … Mann, Ellie …«
    »Ich war neun oder zehn, sei nicht so streng! Dieses U-Boot schützte mich, kannst du das nicht verstehen?« Selbst jetzt, wo ich doppelt so alt war, hatte die Vorstellung etwas Bezwingendes. Ich musste an meine Begegnung mit der Qualle denken. Ja, dieses verschworene Treffen unter dem Meeresspiegel hatte sich gar nicht so weit weg von meinen U-Boot-Fantasien bewegt. Ich hatte mich umfangen und geschützt gefühlt, als ich sie beobachtet hatte. Wasser war schließlich das Element, das Tessa fürchtete.
    »Und du wolltest ganz allein in diesem U-Boot sein? Ohne andere Menschen?«
    »Ja. Ganz allein. Es hätte nur jemand zu mir kommen können, der mich wahrhaftig verstand und akzeptierte und, ohne zu lügen, so mochte, wie ich war, genau so, aber …«
    »Das tue ich, Ellie.« Während ich erzählte, hatte ich auf meine Handflächen gestarrt und war ihre Linien mit den Fingern nachgefahren, doch nun schaute ich auf. Tillmann erwiderte meinen Blick mit fast gewissenhaftem Ernst. Als gehörte es zu seinen Lebensaufgaben, mich zu akzeptieren. Zu respektieren. Und wieder war es da, dieses allumfassende »Ich mag dich« -Gefühl in meinem Kopf und in meinem Herzen, ich bestand nur noch aus diesen drei Wörtern. Ich mag dich. Vielleicht brauchte ich gar kein U-Boot. Vielleicht genügte es, nicht allein mit diesen drei Wörtern zu sein und zu wissen, dass sie erwidert wurden. Nein, ich brauchte kein U-Boot mehr.
    »Komm«, sagte Tillmann so sanft, wie er noch nie mit mir gesprochen hatte, und ging hinaus auf den Balkon, wo er sich auf die Luftmatratze legte und mich zu sich zog. Ich schob meine Hände unter sein T-Shirt und legte meine Fingerspitzen auf sein Herz, um es schlagen zu fühlen und mich von seinem Rhythmus einlullen zu lassen, bis in meinem Kopf Musik dazu entstand, sphärische, beruhigende Klänge, die meinen Atem fließen ließen und es mir leicht machten, mich in meinen Sehnsüchten zu verlieren, für deren Erfüllung es so lange Zeit keine Hoffnung gegeben hatte.
    Ich spürte, dass Tillmanns Gedanken sich zerstreuten und weich wurden, vielleicht erinnerte ihn meine zarte Berührung an etwas, was er vor langer Zeit verloren hatte, an seine erste Liebe, an ein Mädchen, das dieses Herz einst gebrochen hatte, aber meine Hand auf seiner nackten Brust war der Schlüssel zu dem goldenen Reich, das sich uns eröffnen sollte, um zu überstehen, wozu unsere eigenen Kräfte niemals ausreichen würden.
    Tessa.

HEROINEN
    »Schaurig-schön, oder?«
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Tillmann und ich waren exakt im gleichen Moment aus unserem träumerischen Schlummer erwacht, weil sich um uns herum etwas veränderte. Nun standen wir nebeneinander auf dem Balkon unseres Dachgeschosses und ließen unsere Augen schweifen.
    Der Scirocco hatte schon in den ersten Minuten, nachdem wir Tessa auf unsere Spur gelockt hatten und das Wetter umgeschlagen war, die meisten Menschen in ihre Häuser getrieben. Jetzt lag die Piano dell’Erba ausgestorben vor uns. Sogar die Kinder, die ihren Tag normalerweise bis weit nach Einbruch der Dunkelheit damit zubrachten, auf ihren Fahrrädern hin und her zu pendeln, waren wie vom Erdboden verschluckt.
    Die Natur hingegen spielte verrückt. Die Sonne, die in den Abendstunden stets von einem wolkenlosen Himmel gestrahlt hatte, wurde durch einen rötlich gelben Schleier verdeckt und erinnerte mich an eine infizierte Blutblase. Sie war nicht mehr rund, sondern oval. Nie zuvor hatte es in den Abendstunden derart dunstige Wolken gegeben. Obwohl es noch hell

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