Dornenkuss
war – die Helligkeit einer schummrigen Bar, nicht die eines normalen Sonnenuntergangs –, schwirrten bereits Schwärme von Fledermäusen durch die heiße, sandige Luft. Im Staub der Straße raschelte es beständig, aufgewirbelt von winzigen Füßchen; ich wusste nicht, ob die Tiere flohen oder angelockt wurden. Das Meer lag grau und bleischwer vor uns. Nicht die winzigste Welle kräuselte seine Oberfläche. Der Kamm der Bergkette hinter uns glomm schwach auf – der erste Waldbrand, seitdem wir angekommen waren, weit genug weg, um ihn ruhigen Herzens beobachten zu können.
Es war nur ein Waldbrand. Nicht Tessa.
Doch auch der Gedanke an Tessa war wie der an ein notwendiges Übel, das man endlich hinter sich bringen und abhaken wollte. Noch immer verspürte ich keine Panik, sondern vielmehr nagende Ungeduld und den Wunsch, dass es bald losgehen sollte. Die meisten Sorgen bereitete mir nicht ihre Ankunft, sondern der Trip, dem wir uns gleich widmen würden. Aber im Großen und Ganzen war ich ruhig.
Auch die Lage im Untergeschoss hatte sich entspannt. Ab und zu hörte ich Schritte und ein Murmeln, mehr nicht. Das Schlagen von Louis’ Hufen und Colins Hämmern waren verstummt.
Ich löste meine Augen vom Meer und warf einen Blick auf Tillmann. Ein ungewöhnlich weiches Lächeln umspielte seinen sonst so energischen Mund.
»Du freust dich … kann das sein? Du freust dich, oder?«, fragte ich ungläubig. Ich selbst mochte ja (noch) ruhig sein, aber Freude erfüllte mich wahrlich nicht. Tillmann verzog leicht genervt die dunklen Brauen, hörte jedoch nicht auf zu lächeln.
»Ellie, etwas in mir liebt sie und ein anderer Teil will Rache an ihr üben … Beides geht nur, wenn sie kommt. Natürlich freue ich mich darauf, sie zu sehen. Das ist das, worauf ich die ganze Zeit gewartet habe.«
»Und woher bist du dir so sicher, dass der richtige Teil reagiert, wenn sie da ist? Der, der Rache üben will, und nicht der, der sie liebt?«, erwiderte ich härter, als ich beabsichtigt hatte. Doch meine Frage war berechtigt. Möglicherweise bestand Tillmann nur noch aus Liebe und Ergebung, wenn die alte Vettel die Straße hochtrippelte.
»Weil ich diesen Schritt in Gedanken jeden Tag und jede Stunde trainiert habe. Ich habe kaum mehr etwas anderes getan. Und ich hatte viel Zeit. Ich schlafe so gut wie gar nicht mehr.«
Damit musste ich mich zufriedengeben. Ich glaubte ihm, dass er es trainiert hatte. Trotzdem wollte er mich als Kopiloten haben, zur Sicherheit … Er zweifelte also selbst daran. Meine Stimmung war gerade dabei zu kippen, als mein Handy klingelte. Ich hatte es vorhin aktiviert, während ich zu Tillmann nach oben gerannt war, denn sicher war sicher. Vielleicht ergab sich die Situation, dass wir einen Notarzt oder die Polizei alarmieren mussten – was auch immer Ärzte und Bullen gegen Tessa und für uns tun konnten.
Einen Anruf konnte ich jetzt allerdings nicht gebrauchen. Es war definitiv der falsche Zeitpunkt für Telefonate.
Doch Tillmann nickte mir zu. »Geh ran, ich muss unten noch ein paar Sachen holen.« Aha. Ein paar Sachen. Die Drogen und das Messer? Wie um Himmels willen sollte ich mich angesichts solcher Umstände nur auf ein Gespräch konzentrieren – vor allem, wenn es Mama war?
Oder war es Grischa? Diese Idee schoss ohne Vorwarnung durch meinen geplagten Kopf und versetzte mich sofort in Aufregung. Es war immerhin plausibel – ich hatte ihm in dem unsäglichen Brief meine Handynummer hinterlassen; etwas, was ich normalerweise bei Fremden niemals tat, doch Grischa war kein Fremder für mich, sondern seit Jahren Dauergast in meinen Träumen. Vielleicht hatte er etwas Anlaufzeit gebraucht, um sich zu einem Anruf zu überwinden, den er nun tätigte, weil seine Neugierde zu stark geworden war …
»Hallo?«, sprach ich gedämpft in mein Handy, nachdem Tillmann nach unten verschwunden war.
»Oh Elisabeth, ich hatte ja keine Ahnung … ich hatte keine Ahnung!«
Nein. Das war nicht Grischa. Das war Herr Schütz. Tillmanns Vater! Ausgerechnet jetzt! Und wovon redete er da eigentlich?
»Hallo, Herr Schütz«, antwortete ich artig und zwang mich zu einem höflichen, freundlichen Ton, obwohl ich ihn am liebsten angepflaumt und gefragt hätte, was ihm einfalle, jetzt hier anzurufen.
»Elisabeth, wenn ich all das gewusst hätte, dann … dann … du bist ein sehr tapferes Mädchen. Sehr tapfer.«
»Ähm … ja. Geht schon.« Oje, oje. Ich ahnte, was geschehen war. Mama hatte ihm etwas von den Mahren
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