Dornenkuss
mittelmäßig neugierig, während er die Shorts ausschüttelte.
»Kein Quickie. Ich hab ihn nicht mal berührt. Was du immer denkst … Sex allein macht nicht glücklich«, zitierte ich Gianna. Vorwurfsvoll wedelte ich mit dem Dossier in der stickigen Luft herum. Noch nie war die Tatsache, dass ein nackter Mann vor mir stand, nebensächlicher gewesen als jetzt.
»Hast du mal gelesen, was da drinsteht? Von wegen Selbstbewusstsein und keine Probleme im Leben? Ich darf die Dinger auf keinen Fall nehmen! Die werden mich umbringen!«
»Ach, so ein Quatsch, Ellie!« Tillmann riss mir das Heft aus den Händen und schleuderte es in die Ecke, damit ich nicht weiterlesen konnte. Wer wusste schon, was es noch alles an klugen Ratschlägen enthielt. »Der Verfasser will sich nur absichern, falls jemand … falls etwas passiert«, beendete er seinen Satz schwammig, bevor er zu viel verraten konnte. Dabei wollte ich zu gerne wissen, was es mit diesem ominösen »falls etwas passiert« auf sich hatte. Und ganz so ungebildet war ich in Drogenangelegenheiten ja nun auch nicht.
»Er meint Horrortrips, oder? Kreislaufversagen, Zusammenbruch, Psychose?« Wieder brandete das hysterische Lachen von vorhin in mir auf. »Tillmann, das ist nicht das Richtige für mich, keine einzige Droge ist es …«
»Jetzt halt mal den Mund, Ellie! Wir haben keine Zeit, uns einen anderen Plan auszudenken, wir können nur diesen einen ausführen – oder abhauen. Willst du das? Abhauen?«
Ich gestattete mir eine Minute, um darüber nachzudenken. Oh, es war so verführerisch, so unendlich verführerisch. Doch es würde nichts an der Grundsituation ändern. Es würde die Konfrontation nur hinauszögern. Deshalb schüttelte ich den Kopf.
»Nein. Nein, das will ich nicht. Aber wie soll ich es bloß schaffen, bis zu ihrer Ankunft ein anderer Mensch zu werden? Wie?«
»Das musst du doch gar nicht. Ich hab Momente mit dir erlebt, in denen du sehr wohl selbstsicher warst, vielleicht sogar selbstverliebt. Es liegt in dir, Ellie.«
»Aber nicht jetzt! Nicht jetzt!«, protestierte ich. »Tessa ist unterwegs!«
»Ja, Tessa ist unterwegs. Genau das ist es doch. Wenn wir gewinnen, sind wir sie für immer los. Dann kannst du endlich mit Colin zusammen sein, ohne sie fürchten zu müssen. Ist es nicht das, was du die ganze Zeit wolltest? Es ist zum Greifen nah! Bevor die Nacht hereinbricht, werden wir vielleicht schon frei sein. Wir waren nie näher dran als jetzt.«
Pfarrer wäre auch ein guter Beruf für Tillmann gewesen, dachte ich bärbeißig. Eventuell sogar noch besser als Lehrer. Ja, er sprach das an, was ich wollte und wonach ich mich sehnte. Aber mir kam die Chance, dorthin zu gelangen, verschwindend klein vor. Unwirklich klein sogar. Colin hatte richtiggelegen. Ich hatte keine Angst, jedenfalls keine Panik. Dennoch strotzte ich nicht vor Selbstbewusstsein und war ebenso wenig in der Lage, die Probleme in meinem Leben zur Seite zu wischen. Sie waren da.
»Versuch es dir vorzustellen, Ellie. Du kannst doch tagträumen, oder? Dann fang damit an, jetzt! Jetzt sofort und wir sind in der richtigen Stimmung, die Pilze zu nehmen, sobald wir sie nehmen müssen. Ich kümmere mich um alles. Du wirst eine niedrige Dosis bekommen, niedriger als meine, denn bei dir werden sie stärker wirken. Der Effekt kommt ganz sanft, ich verspreche es dir … Ich hab alles genau berechnet. Ellie, stell dir einfach vor, du träumst …«
»Du musst mir dabei helfen.«
»Aber wie? Wie kann ich das denn?« Tillmann sah mich fragend an. Tja, wie konnte er das? Ich wusste es auch nicht. Ich hatte mich bisher immer allein meinen Tagträumereien überlassen, doch alles in mir sträubte sich dagegen, ihn auch nur zwei Meter weiter weggehen zu lassen. Wenn ich allein blieb, würde ich anfangen zu begreifen, in welchem Größenwahn wir uns da gerade verirrten.
Mit gerunzelten Brauen und unruhigen Händen dachten wir nach, suchten still nach Möglichkeiten und Ideen, nach Tricks, Selbstüberlistungen, Brücken und Wegen – bis ich begriff, dass wir sie einzeln nicht finden konnten.
»Du musst mein U-Boot sein«, murmelte ich schließlich gedankenverloren.
»Dein U-Boot? Bist du etwa schon auf einem Trip? Wieso denn U-Boot?«
»Ich … ich hatte mal eine Phase in der Schule, in der es mir nicht sehr gut ging.« Phase war gut. Diese Phase hatte Jahre angedauert. Es war keine Phase, sondern ein Martyrium gewesen. »Ich hatte jeden Tag Angst vor dem, was mich erwartete. Gleichzeitig
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