Dornenkuss
Boden fallen und andere darüber entscheiden lassen, was mit mir geschah. Doch dafür war ich zu wichtig. Ich konnte mir das nicht erlauben.
»Warum kein Valium?«, fragte Paul und schob ein Kissen unter ihre Beine. »Es wirkt zuverlässig und nimmt ihr erst einmal die größte Angst …«
»Weil sie dann nicht mehr klar denken kann! Sie muss bei Verstand bleiben, wir alle müssen bei Verstand bleiben! Paul, bitte …« Ich dämpfte meine Stimme zu einem Flüstern. »Von mir aus sag ihr, dass du ihr Valium gibst, aber nimm ein Placebo. Baldrian oder so. Irgendetwas Harmloses. Es ist zu gefährlich, wenn sie ihre Sinne nicht mehr beieinanderhat!« Obwohl mir meine Worte wie Scheinargumente vorkamen, wusste ich, dass ich mit meinen Thesen richtiglag. Es war sicherlich leichter, jemanden zu verwandeln oder zu töten, der nicht ganz bei sich war und unter Medikamenten stand. Gianna war zwar auch jetzt nicht bei sich, doch ich hoffte, dass sie sich bis zu Tessas Ankunft wieder fangen würde – zumindest so weit, um logisch denken zu können. Unser Verstand war das, was wir Tessa voraushatten.
»Na gut, von mir aus. Ich probiere es«, willigte Paul ein.
So, und nun zu mir. Die Pilze. Oh nein, die Pilze.
»Wo ist Tillmann? Ist er etwa noch am Strand?«
»Ich denke schon. Er ist bestimmt ins Wasser gegangen …«
Verdammt. Ob er wohl auch spürte, was geschehen war? Doch auf seine Ankunft konnte ich nicht warten. Ich drückte meine Fäuste gegen meine Schläfen und zwang mich, Ordnung in meinen Kopf zu bringen. Colin wusste, dass Tillmann und ich eine Idee hatten, womit wir es schaffen konnten, Tessa zu überlisten und zu töten. Er hatte ihm versprochen, uns dabei nicht zu beeinflussen oder im Weg zu stehen – von ganz allein hatte er das getan, schon bevor ich wusste, wie diese Methode eigentlich aussah. Vermutlich, weil er sowieso davon ausgegangen war, uns in sein Auto zu setzen und wegzubringen.
Gianna und Paul hatten keine Ahnung, was wir im Schilde führten, aber sie durften uns keinesfalls dazwischenfunken. Tillmann hatte mir eindringlich gesagt, welche Punkte wichtig waren und was sie dabei nicht tun sollten.
»Paul, hör mir bitte einen Moment zu.« Ich lotste ihn in den Flur, um ungestört sprechen zu können. Giannas Leid nahm mich zu sehr gefangen; es lenkte mich vom Wesentlichen ab. »Tillmann und ich werden die Sache mit Tessa in die Hand nehmen. Wir haben einen Plan und er ist wirklich gut, ich habe lange darüber nachgedacht. Er mag euch seltsam vorkommen, aber ihr dürft auf keinen Fall dazwischengehen, bis … bis Tillmann zusticht. Was danach passiert – keine Ahnung.«
Weiterreden, Ellie. Nicht zu viel nachdenken. Nur abspulen.
»Eines ist ganz wichtig, sonst kann alles nach hinten losgehen und wir wissen nicht mehr, was wir tun: Wenn Tillmann und ich nachher vom Dachboden kommen – wahrscheinlich kurz nach dem Sonnenuntergang«, rechnete ich mir aus, »werden wir Musik anstellen. Bitte die Lautstärke auf keinen Fall verändern und erst recht nicht das Album wechseln, okay? Und bitte keine lauten Worte und hektischen Bewegungen.«
Paul wandte den Kopf und blickte zweifelnd zu Gianna hinüber, die wie eine Leiche auf dem Bett lag, die Augen geschlossen, die Arme steif von sich gestreckt. Ja, im Moment waren von Gianna keine hektischen Bewegungen zu erwarten. Doch das konnte sich minütlich ändern. Gianna hatte die Hektik erfunden. Ich vertraute auf Pauls beruhigenden Einfluss, etwas anderes blieb mir nicht übrig. Tillmann hatte gesagt, dass Lärm und Stress, ja, manchmal nur eine einzige zu schnelle Geste die Wirkung der Pilze negativ beeinträchtigen konnten. Es gab noch einen Punkt, den wir klären mussten.
»Wir brauchen ein scharfes Messer, um … du weißt schon. Kannst du eines heraussuchen und es gegebenenfalls schärfen?« Es war das erste Mal, dass ich das Wort »gegebenenfalls« benutzte, registrierte ich kühl. Bisher hatte ich es allenfalls schriftlich und abgekürzt verwendet. Vielleicht war es ein Wort, das dem Planen von Verbrechen vorbehalten war.
»Was genau habt ihr vor, Ellie? Und was sagt Colin dazu? Lässt er dich einfach so gegen Tessa antreten? Ist er ein solcher Feigling?«
»Er ist kein Feigling!« Sondern Opfer einer Erpressung. So ganz traute ich der Ernsthaftigkeit dieser Opferrolle nicht, aber ich hatte keine leeren Phrasen von mir gegeben, als ich drohte, mich einzumischen. Das würde ich tun. Ich würde ihn nicht sterben lassen, nicht im Kampf gegen
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