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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ihren Haaren und Gewändern begann das Leben zu flüchten. Ich sah die Flöhe in einem wahren Freudenreigen durch die Luft tanzen, aber vor allem waren es Zecken, kleine graue Asseln und winzige Wanzen und Schaben, die sich aus ihren verklebten Strähnen und den modrigen Gewänderschichten befreiten und auf die Terrakottafliesen krabbelten.
    »Zurück! Nicht anfassen!«, befahl Paul, obwohl keinem von uns der Sinn danach stand, denn nun nahmen wir auch den bestialischen Gestank wahr, der uns von Tessas Körper entgegenbrandete – nicht mehr jener schwüle, von Schimmel durchsetzte Moschus, der mir bei meinen vorherigen Begegnungen mit ihr in die Nase gestiegen war, sondern abgestandener Schweiß, gärende Hefe und dazu eine undefinierbar süßliche, teigige Ausdünstung. Sie roch, als hätte sie sich jahrhundertelang nicht gewaschen. Was vermutlich zutraf.
    Ehe ich begriff, wo wir uns überhaupt befanden – nämlich nicht, wie ich gedacht hatte, draußen auf der Terrasse, sondern in unserem schmalen Hausflur –, sprühte Paul den Flohstich auf meiner Wade mit Desinfektionsmittel ein und wischte grob darüber. Die Asseln und Schaben krochen bereits die Wände hinauf. Paul ließ das Tuch, mit dem er meinen Biss bearbeitet hatte, fallen und rannte in die Küche, um bewaffnet mit Insektenvernichtungsmittel, das wir wegen der Termiten gekauft hatten, zurückzukommen und die Wände einzunebeln. Ein paar der Tierchen starben sofort, die anderen fielen herab und versuchten, sich in die Ritzen zwischen den Fliesen zu drücken.
    Irritiert beobachtete ich Pauls Gebaren. Ich kannte meinen Bruder so nicht. Er war der Letzte, der sich vor Insekten fürchtete. Ja, eigentlich hätte er sich eher darum kümmern müssen, was mit diesem stinkenden Menschlein geschehen sollte, das vor uns lag und sich nur mäßig interessiert umsah, aber immer noch nicht rührte.
    »Ausziehen!« Paul machte eine ungeduldige Handbewegung in unsere Richtung. »Los, zieht eure Klamotten aus, schnell!«
    »Aber … warum …?«, fragte Gianna kläglich.
    »Ausziehen!«, wiederholte Paul und dieses Mal war nicht zu überhören, dass er keine Gegenfragen mehr dulden würde. »Du auch!« Er deutete auf Colin. »Die Viecher könnten in euren Klamotten sein, wir müssen alles verbrennen.«
    Verbrennen? Übertrieb er nicht ein wenig? Gianna zierte sich und wollte sich ins Schlafzimmer verdrücken, doch Pauls mahnender Blick ließ sie mitten in der Bewegung verharren. Ich wollte gerade dazu ansetzen, meinen Bruder zu fragen, was dieses Theater sollte, als Tessa zu husten begann. Ihre Lunge rasselte, dann würgte sie mit einem feuchten Blubbern blutig-schleimigen Auswurf hervor, der in Klumpen auf ihren Haaren und Gewändern landete.
    »Scheiße«, murmelte Paul. »Hab ich nicht gesagt, ihr sollt euch ausziehen?«, setzte er drohend hinterher. Als wir ihn stumm ansahen, platzte ihm der Kragen. »Sagt mal, begreift ihr das denn nicht? Diese Frau hier ist mehrere Hundert Jahre alt und voller Parasiten und Krankheitswirte! Die Flöhe beißen und wer weiß, was sie alles in ihrem Blut haben! Sie können die Pest übertragen, wenn es ganz blöd läuft! Wollt ihr sterben?«
    Die Pest. Die Pest! Jetzt kapierte ich schlagartig, was ihn antrieb. Und ich war bereits gestochen worden. Ich war für diesen Floh der erste menschliche Kontakt seit unendlich langer Zeit gewesen. Oder aber er war ein Nachkomme jener mittelalterlichen Flohbrut, die Tessa einst befallen hatte. Hilfe suchend drehte ich mich um. Gianna schlug bereits schonungslos auf ihre Arme und Beine ein, obwohl ich gar keine Flöhe mehr durch die Luft springen sah. Doch auch ich hatte das Gefühl, am ganzen Körper von ihnen befallen zu sein. Hastig schlüpften Tillmann und ich aus unseren wenigen Sachen; mit Nacktheit hatten wir beide kein Problem. Colin, der sowieso niemals Unterwäsche trug und keine Scham kannte – vielleicht, weil er davon ausging, dass die Menschen ihn hässlich fanden –, befreite sich ebenfalls von seiner Hose, um sie auf den Haufen unserer Klamotten zu werfen. Gianna folgte als Letztes, umständlich und stets darauf bedacht, Brust und Scham mit ihren Händen zu bedecken. Paul ließ seine Kleider an; warum, wusste ich nicht, doch ich hielt es für besser, nicht danach zu fragen. Mit einem Besen kehrte er den Klamottenhaufen an Tessa vorbei Richtung Haustür.
    Tessas Hustenkrampf war abgeflacht. Sie wandte ihren Kopf zur Seite und schielte zu Colin hinüber, der nackt an der Wand

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