Dornenkuss
ich glaube nicht, dass Gianna die Richtige dafür ist …«
»Ja?«, fragte ich milde interessiert. Es Colin zu erzählen, kam für Paul offensichtlich nicht infrage, wobei Colin pikante Krankheitsgeschichten vermutlich besser wegstecken konnte als ich. Paul verlor sich zu gerne in ekelhaften Details. Oder verbarg sich doch etwas anderes dahinter?
»Tessa … Ich hatte sie doch zu Anfang gewaschen und untersucht, um herauszufinden, was mit ihr geschehen sein könnte und warum sie krank ist. Ich hab sie am ganzen Körper untersucht, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ja, ich verstand es und ich fand es überaus abstoßend, aber ich nickte, wie ein gewiefter Medizinerkollege genickt hätte, und hoffte, dass mein leerer Magen Pauls Schilderungen hinnehmen würde.
»Sie hatte … es klebte getrocknetes Blut zwischen ihren Schenkeln, viel Blut, aber ich glaube nicht, dass sie vergewaltigt wurde, sondern …« Paul machte eine kleine Pause, um seine Gedanken zu ordnen. »Vergewaltigt worden ist sie sicherlich auch, das gehörte in ihrem Beruf wohl zur Tagesordnung, und ich habe verblassende Hämatome auf ihren Oberschenkeln entdeckt, aber was die neueren Verletzungen betrifft … ich denke, dass sie eine Abtreibung vorgenommen hat und deshalb krank wurde. Oder sie hat eine Fehlgeburt erlitten. Denn ihre Brüste gaben Milch.«
Ich erschauerte. Keines dieser medizinischen Details hatte ich jemals wissen wollen. Doch jetzt hatte ich sie gehört und mein Kopf fing automatisch damit an, die Informationen auszuwerten. Abtreibung. Ja, das passte irgendwie zu ihr, sich Kinder machen lassen und dann nicht haben wollen, dachte ich und wusste im selben Moment, dass meine vorschnellen Schlussfolgerungen ungerecht und oberflächlich waren, vielleicht sogar vollkommen falsch. Sie hatte als Hure gearbeitet, wahrscheinlich stammten diese Kinder von Freiern; sie hätte niemals daran denken können, sie zu bekommen, weil sie dann nicht hätte weitermachen können – oder war es den Männern damals egal gewesen, ob eine Frau schwanger war oder nicht? Hatte sie Kinder gehabt, ein ungeborenes vielleicht sogar während einer Vergewaltigung verloren? Paul nahm das an. Sie war Mutter gewesen.
Seine Stimme war belegt, als er weitersprach. »Ich hatte mir überlegt, sie zu obduzieren, um zu sehen, in welchem Zustand ihre Organe waren nach all der Zeit, aber … ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Es ging nicht. Ihr Körper war schon zu sehr missbraucht worden. Es war nicht recht. Verstehst du das?«
Ich entsann mich an unser kurzes, schläfriges Gespräch, das wir im April auf dem Weg zur Ostsee geführt hatten. Paul hatte gesagt, er würde gerne mal in Tessa hineinsehen. Das war keine scherzhafte Bemerkung gewesen, sondern sein Ernst. Nun hatte er die Gelegenheit gehabt und es sich doch selbst verwehrt – zum Glück. Ich hätte es ebenfalls nicht gewollt, nicht in unserem Haus, wenn auch aus anderen Beweggründen.
Trotzdem begann ich diese Frau, deren Leiche Colin vorhin weggeschafft hatte und irgendwo da oben in den Bergen verscharrte, mit finsterem Blick und einem rasenden Pferd, anders zu sehen als zuvor. Nicht mehr als dämonische Schreckensgestalt, sondern als ein gieriges, dummes Weib, auf seine eigene Weise Opfer seiner Umstände, Opfer jener Zeiten, in die es hineingeboren war. Sie hatte viel weniger als wir entscheiden können, wer sie war und was sie sein wollte. Es hatte nicht viele Optionen für sie gegeben und eine davon war die Hurerei gewesen, mit all ihren Konsequenzen.
Ein Kind hatte sie dennoch hervorgebracht. Colin. Sosehr mich dieser Gedanke beleidigte und anwiderte: Ich hatte ihrem Entschluss, sich verwandeln zu lassen, den Mann zu verdanken, den ich liebte. Unauffällig fuhr ich mit dem Daumen über meinen rechten Lymphknoten am Hals. Keine Veränderungen.
»Wie lange müssen wir noch oben bleiben?«
Paul schreckte hoch. Er war erneut im Sitzen neben mir eingenickt.
»Was? Ach so, oben. Noch drei Tage. Besser vier. Danach können wir sicher sein«, sagte er schleppend vor Müdigkeit. Nun tastete ich seine Lymphknoten ab. Kaum spürbar. Gesund. Erschöpft, aber gesund. Ja, Paul hatte sämtliche Hygienevorschriften eingehalten und wusste besser als wir alle, was er tun durfte und was nicht, aber ich empfand es als ein kleines Wunder, dass er so robust geblieben war. Es war ein Sieg gegen François, ein Sieg im Nachhinein, und vor allem war es sein eigener, selbst errungener Sieg. Irgendwann würde
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