Dornenkuss
ich ihm das sagen, aber jetzt gehörte er ins Bett.
Die letzten drei Tage in unserem Gefängnis wurden zur Nervenprüfung. Obwohl uns allen leichter ums Herz war, nachdem Tessa gestorben und vergraben war, ohne dass es jemandem in der Straße aufgefallen war (das wiederum hatten wir Colin zu verdanken; wenn er auftauchte, zogen die Menschen sich von ganz allein in ihre Häuser zurück), gerieten wir in einen handfesten Hüttenkoller.
Nach wie vor durfte ich mich Gianna und Tillmann nicht nähern, was die beiden aber nicht etwa miteinander verband. Sie rasteten regelmäßig aus und schrien sich an, bis sie sich die Kopfhörer ihrer MP3-Player um die Ohren schlugen und sich mit saftigen Schimpfwörtern bedachten. Tillmann zog dabei den Kürzeren, weil Gianna irgendwann ins Italienische fiel, und dagegen klang selbst die drastischste deutsche Beleidigung lachhaft harmlos.
Ich musste mir gut zureden, um den beiden noch Sympathie entgegenzubringen. Gianna war zum zänkischen Weib mutiert, das abwechselnd heulte und schimpfte; Tillmann baute um sich herum eine undurchdringliche Mauer des Schweigens auf und warf ab und zu einen Stein durch seine Schießscharten, um zu beweisen, dass er noch da war. Dabei war seine Anwesenheit weder zu überhören noch zu überriechen, weil er Gianna gerne provozierte, indem er ungehemmt furzte und rülpste, etwas, was ich ihm nie zugetraut hätte. Aber nach fünf Tagen Knast missachtete anscheinend jeder Mann die Benimmregeln. Immer wieder musste Paul uns zur Vernunft bringen und uns gut zureden, damit wir uns nicht gegenseitig umbrachten.
Als mir einmal der Kragen platzte und ich den beiden ihre Kopfhörer aus den fuchtelnden Händen reißen wollte, wurde Gianna neurotisch und kreischte in den höchsten Tönen nach Paul. »Sie wollte mich anfassen, deine Schwester wollte mich anfassen!«
»Bäh!«, machte ich höhnisch und hob beide Hände, als wolle ich mich auf sie stürzen, doch Pauls Gebrüll trieb uns allen den Teufel aus. Wenn der Stier in ihm durchbrach, suchte man besser das Weite und hielt seinen Schnabel.
Irgendwann war der letzte Quarantänetag angebrochen und ich wartete sehnsüchtig auf den Abend und jene befreiende Stunde, wenn alle außer mir schliefen. Doch dieses Mal konnte auch ich nicht wach bleiben. Ich kam erst wieder zu mir, als mich ein widerwärtig farbenprächtiger Albtraum – eiternde Pestbeulen gehörten wohl fortan zum Horrorreservoir meines Unterbewusstseins und nun waren rote Haare auf ihnen gewachsen – aus meinem Schlummer vertrieben hatte. Wie immer, wenn ich erwachte, tastete ich meine Lymphknoten ab und seufzte vor Erleichterung laut auf. Die Schwellung war spürbar zurückgegangen. Auch der dumpfe Schmerz in meinen Beinen und Armen hatte sich abgeschwächt. Ich blieb noch einige Minuten reglos liegen und suhlte mich in dem tröstenden Gefühl, mich selbst aus diesem Horror befreit zu haben, dank der Zähigkeit meines manchmal so verhassten Körpers, und nun wieder in mein eigenes Zimmer zurückkehren zu können, zu meinem Skorpion, den ich in der vergangenen Woche trotz meiner Angst vermisst hatte.
Ob der Skorpion überhaupt noch zu mir kommen würde? Und würde ich mich jetzt endlich von meinen Strapazen erholen können? Loslassen und alles vergessen? Oh, ich sehnte mich nach dem Meer, nach seiner erfrischenden azurblauen Kühle. Den Eidechsen, die sich auf den Steinen sonnten, den schwerelos dahinschwebenden Quallen, der grauen Aspisviper, die sich mir vor Tessas Ankunft immer öfter gezeigt hatte, wenn ich nach der Siesta in den Garten kam. Sie schlief gerne auf dem kleinen Absatz hinter der Duschwanne. Bei unseren ersten Begegnungen nach ihrem Besuch in meinem Bett war sie noch scheu davongehuscht, doch ich war ruhig stehen geblieben und nach einiger Zeit schlängelte sie sich wieder hervor und streckte sich entspannt aus, um sich zu sonnen. Dann konnte ich mich neben sie setzen, um sie so zu betrachten, wie ich den Skorpion betrachtete: mit verträumter Bewunderung und einem ruhigen, gelassenen Lebensmut im Herzen.
Ich verließ mich darauf, dass der Skorpion und die Schlange mir nicht entfliehen würden und meine langersehnte Erholung auch nicht, denn zunächst waren andere Angelegenheiten wichtiger. Nein, heute Nacht gab es eigentlich nur eine, doch sie war in meinen Augen plötzlich eine größere Herausforderung als das, was ich gerade erst mit mehr Tiefen als Höhen gemeistert hatte. Ich musste mich mit Colin versöhnen. Ich wollte
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