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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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du … du erinnerst mich an jemanden.« Durfte ich ihn duzen? Wir kannten uns doch gar nicht.
    »Gut oder schlecht?«, hakte er behutsam nach.
    »Irgendwie beides.« Ich nahm die Hand wieder von meinem Mund, weil es sich anhörte, als würde ich nuscheln.
    »Hat er dich mies behandelt?«
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf, wobei mein Nacken gedämpft knackte. »Er hat mich gar nicht behandelt.«
    »Ja, das kann mitunter schlimmer sein.« Der junge Mann setzte sich auf und streckte mir seine Hand entgegen. »Ich bin Angelo.«
    Automatisch ergriff ich sie. Sie fühlte sich angenehm an, trocken, warm und biegsam, der Druck nicht zu fest, aber auch nicht zu weich, sondern genau richtig.
    »Ich heiße …« Ich zögerte. »Angelo?«, hakte ich nach und musste plötzlich lachen, was so befreiend war, dass ich mich ein wenig dabei entspannte. »Oje …« Das war beinahe zu platt, zu banal. Ein Engelsgesicht, das Angelo gerufen wurde. Befanden wir uns noch in der Wirklichkeit oder schon in einem Kitschroman?
    Er hob gleichmütig die Schultern. »Na ja, so nennen sie mich halt. Klar, die meisten denken, dass ich wegen meines Aussehens so gerufen werde, aber das war nicht der ursprüngliche Grund.«
    »Sondern?« Mein Mund zuckte immer noch.
    »Ausführlich Michelangelo. Angeblich ähnele ich der David-Statue. Kennst du die David-Statue?«
    »Ja. Haben wir in Kunst durchgenommen.« Ich erinnerte mich gut an sie: ein nackter, steinerner Jüngling, dessen linkes Ei ein bisschen tiefer hing als das rechte, wie Nicole und Jenny gackernd festgestellt hatten (zum großen Unmut unseres Kunstlehrers). Mich hatte etwas anderes beschäftigt. Die Statue zeigte David vor seinem Angriff auf Goliath. Wie, fragte ich mich, konnte man eine derart ruhige Gelassenheit und Selbstliebe ausstrahlen wie dieser Jüngling, wenn man doch gerade dem Tod entgegensah?
    Aber die Menschen, die dem Mann vor mir seinen Spitznamen verliehen hatten, lagen richtig: Angelo ähnelte der Statue. Auch er war makellos gebaut, wirkte jedoch nicht im Geringsten gewalttätig und auch nicht furchtsam, sondern durchweg entspannt und selbstvergessen. Er wusste, dass Goliath ihm nichts anhaben konnte. In seiner blühenden Jugend war er ihm haushoch überlegen.
    »Ja, es stimmt …«, murmelte ich gedankenverloren. Auch wenn sie ihn dann eigentlich hätten David nennen müssen. Doch den Namen David mochte ich nicht. Michelangelo klang so viel schöner und melodischer.
    »Daraus ist der Spitzname Michelangelo entstanden, abgekürzt Angelo …«, erklärte Angelo amüsiert. »Wie Menschen eben so sind.«
    Wie Menschen eben so sind. Mir wurde mit einem Schlag eiskalt. Das sagte man nicht, wenn man selbst dazugehörte. Sondern nur, wenn man sich ausgrenzte oder ausgegrenzt wurde. Das Lachen wich sekundenschnell aus meinem Gesicht. Fliehen oder bleiben? Aber seine Hand war warm gewesen, er zeigte sich den Menschen, er spielte inmitten von ihnen in einer Bar Klavier, das alles sprach dagegen und trotzdem – diese unglaublich blautürkisen Augen … menschlicher oder dämonischer Natur? Ich konnte beim besten Willen nichts Dämonisches in ihrem Ausdruck erkennen.
    Nun ertönte von Neuem das Klavierspiel und wehte mal leiser, mal lauter zu uns herüber. Wieso Klavierspiel? Angelo war doch hier, er lag direkt vor mir. So, beschloss ich, nun sollte ich langsam mal erwachen. Dieser Traum war ja sehr kreativ und ungewöhnlich lang, aber ich wollte aussteigen. Klavierspiel von einem Klavierspieler, der vor mir hockte, anstatt am Klavier zu sitzen – das war mir zu surrealistisch. Aber ich wachte nicht auf. Ich befand mich immer noch vor diesem Fremden, der mich nach wie vor mit unschuldiger Neugierde anstrahlte. Offenbar interessierte er sich für mich.
    »Ich dachte …« Ich befeuchtete meine Lippen. »Ich dachte, du spielst auf dem Piano, und jetzt …«
    »Und?« Angelos Lächeln verbreiterte sich. Schöne weiße Zähne, die Eckzähne ein bisschen hervorstehend, was niedlich aussah und nicht bösartig. Wie ein kleiner Vampir. Doch je mehr mein Gehirn arbeitete, sortierte und auswertete, desto unfassbarer wurde die Situation. Sie sprengte meine Denkkapazitäten.
    »Warum verstehe ich dich?«, wisperte ich. Das hatten wir doch schon einmal gehabt. In Verucchio.
    »Wieso solltest du mich denn nicht verstehen?«
    »Ich – ich dachte, du sprichst italienisch …«
    »Tu ich ja auch.«
    Ich wollte aufstehen und davonrennen, nur weg von hier, um aufwachen zu können, manchmal half das,

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