Dornenkuss
allerhöchstens die Polizei oder einen Notarzt gerufen. Falls überhaupt.
Ein trockenes Näschen stupste gegen meine Hand und wider Willen musste ich lächeln. Eine Katze. Italien war voller Katzen, jede einzelne ein kleiner Trost. Hier tröstete mich gleich ein ganzer Wurf. Sie konnten nicht älter als ein paar Monate sein. Wenn ich sie streichelte, fühlte ich ihre Rippen, so dünn waren sie. Keck spielten sie mit meinen nackten Zehen und den Riemchen meiner Sandalen, bissen sich im Schaukampf gegenseitig in den Nacken und krochen dann wieder schnurrend auf meine Beine, um sich kraulen zu lassen. Ich würde hier sitzen bleiben und warten, bis das Piano verstummt war. Oh, wann hörte er endlich damit auf …
Doch dann, aus dem Nichts heraus, schossen die Katzen von mir weg, ohne dass ich gezuckt hätte oder ein lautes Geräusch erklungen wäre. Was hatte sie erschreckt? Sie waren nicht weit fortgerannt, sondern hatten sich lediglich verborgen; es gab in diesen Gassen genügend Verstecke. Leere Blumenkübel, Löcher in den verfallenden Mauern, Nischen und Ecken – ein echtes Katzenparadies. Ich spürte, dass sie noch da waren und sich in einer geheimen Zwiesprache darüber austauschten, ob es sich lohnen würde, zu mir zurückzukehren.
»Pssst«, ertönte es direkt vor mir, ein sehr menschliches Pssst, aber für mich wie ein Kanonenschuss. »Nicht bewegen.«
Ich verschluckte mich beinahe beim Luftschnappen und für einen Moment war meine Kehle vollkommen verschlossen. Trotzdem blieb ich folgsam sitzen. letzt aufzustehen, wäre eine Sünde gewesen, denn es hätte mich von den Augen getrennt, die mich durch die sacht im Wind wiegenden Palmwedel anschauten, voller Vergnügen und Leichtigkeit und doch von jungenhaftem Ehrgeiz erfüllt, weil sie nicht einsehen wollten, dass die Katzen vor ihnen verschwanden. Vermutlich waren die Tiere von ihrer Intensität genauso geblendet wie ich. Das war kein Blau, das war Türkis – nicht jenes eisige Türkis, das Colins Augen zeigten, wenn die Sonne vom Himmel brannte, sondern natürlicher und trotzdem einzigartig in seiner Strahlkraft.
Mund zu, Elisabeth, ermahnte ich mich streng. Und glotz nicht so! Beherrsche dich!
Es half nichts. Wie gefesselt saß ich auf der Gasse und ließ den Fremden näher kommen, der mir so vertraut erschien, als wären wir miteinander aufgewachsen, und dabei trotzdem derart bemerkenswert und erstaunlich, dass ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte.
Bäuchlings, sich weder um sein Hemd noch um seine Hose scherend (und beides sah nicht billig aus), robbte er auf mich zu. Er streckte seine Hand lang aus und ließ sie vor meinen Füßen ruhen. Nur sein Zeigefinger kratzte sanft über den Steinboden, um die Katzen aus ihren Verstecken zu locken. Ja, es war der Klavierspieler. Ich erkannte ihn nicht nur an seinen feingliedrigen Händen, sondern an all dem, was mich vorhin schon bestürzt hatte.
Das getigerte Katerchen war am mutigsten und wagte sich als Erstes aus seinem Schlupfwinkel. Mit bebenden Schnurrhaaren und in Habachthaltung näherte es sich der ausgestreckten Hand, um vorsichtig daran zu schnuppern und sich dann mehr singend als schnurrend an ihr zu reiben. Jetzt folgten die anderen, nach und nach stahlen sie sich aus ihren Höhlen und gewannen binnen kürzester Zeit ihre Leichtigkeit zurück; es kam mir sogar so vor, als wären sie besonders kühn und wollten zeigen, was sie konnten. Obwohl es nun nicht mehr notwendig war, blieb der junge Mann liegen, stützte sein Kinn auf seine Hand und sah zu mir hoch.
»Oh nein …«, flüsterte ich. Gianna hatte sich getäuscht. Er war nicht Mr Perfect. Und sein Gesicht war, wie ich bereits vermutet hatte, auch nicht Grischas Gesicht. Er hatte eine gut sichtbare Narbe am linken Auge, alt und abgeheilt, aber verwegen, und eine weitere am Kinn, wahrscheinlich ein Fahrradunfall. Ein paar wenige Sommersprossen – wie Milchkaffee, nicht rot – tanzten auf seiner Nase, doch seine Wangen waren leicht gebräunt, und als er erneut lächelte, konnte ich nicht anders, als meinen Mund mit der Hand zu verdecken, da es genauso verschmitzt und anziehend war wie Grischas Lächeln und dazu noch Grübchen zeigte, was es schöner und schlimmer zugleich machte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er immer noch lächelnd.
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete ich langsam, denn paradoxerweise fühlte es sich so an – jetzt, wo wir miteinander sprachen, etwas, was Grischa nie freiwillig getan hatte. »Es ist nur …
Weitere Kostenlose Bücher