Dornenkuss
meinem früheren Leben, musste ich einem seiner Doubles begegnen. Da die Drinks immer noch nicht nahten, mahnte ich mich zur Vernunft. Das ziehende Gefühl in meinem Bauch würde sich legen, sobald der erste Schreck überwunden war. Ich musste mir nur bewusst machen, dass ich Opfer einer Sinnestäuschung war, im Grunde nichts anderes als meine Träume, und die hatte ich auch spätestens nach drei Tagen verarbeitet. Bis der nächste kam … Ich hielt mich an Giannas Worten fest – in fünf Jahren Bauch und beginnende Glatze. Grischa hatte womöglich jetzt schon eine beginnende Glatze. Oder graue Haare. Wer wusste das schon? Jugendliche Schönheiten konnten schnell verblühen. Und wenn ich während unserer Quarantäne nicht immer wieder von Grischa geträumt hätte, wäre mir seine Ähnlichkeit zu diesem Klavierspieler vermutlich gar nicht so stark aufgefallen. Ich glaubte ja nicht einmal, dass die beiden verwandt waren. Es waren reine Zufälligkeiten.
Ich kam mir vor wie eine Närrin, als ich diesen jungen Mann trotz meines Unterfangens, sachlich zu bleiben, weiterhin begaffte, denn nun begann er zu singen. Herrgott, warum musste er auch noch singen? Reichte es nicht, dass er diese melancholisch-schönen Ackorde spielte? Einer der Kellner gockelte an ihm vorbei und schwenkte kurz die Hüften im Takt und zwei Frauen, die eben noch miteinander geplaudert hatten, wandten ihre Köpfe und wurden still.
»Richard Clayderman für Arme, was?«, spottete Tillmann.
»Na, immerhin spielt er Paolo Conte und nicht die Schicksalsmelodie!«, verteidigte ihn Gianna. »Und er macht es gar nicht schlecht.«
»Paolo Conte?«, fragte ich, nachdem ich es geschafft hatte, meine Lippen voneinander zu lösen. Mein Gesicht fühlte sich trotz der Hitze meiner Wangen an wie ein Stein, der stundenlang in der sengenden Sonne des Südens gelegen hatte.
»Oh Ellie, du kennst ja wirklich gar nichts … Paolo Conte, Sparring Partner. Sozusagen in der Softieversion für Jungspunde.« Gianna spitzte die Lippen und legte den Kopf schief, um den Klavierspieler genauer ins Visier zu nehmen, während Paul sie und mich erheitert beobachtete. Er hatte niemals Angst um Giannas Treue. Bei ihr war ihm Eifersucht fremd. Ich bewunderte das. Mir passte es gar nicht, wenn Gianna und Colin miteinander flirteten, obwohl Gianna heute Morgen noch gesagt hatte, dass sie ihn nicht berühren mochte.
»Hmmm …«, summte Gianna nachdenklich. »Der war nicht hier, als ich das letzte Mal da war. Na ja, damals ist er wahrscheinlich noch zur Schule gegangen. Ein blonder Italiener … normannisches Blut. Schlimm, oder?« Sie schaute mich flachsend an. »Es gibt ihn tatsächlich, den Mr Perfect. Mit Sicherheit ein totaler Langweiler. Und schlecht im Bett. Weil er glaubt, sich keine Mühe geben zu müssen.«
»Es gibt sogar mehrere Mr Perfect«, sagte ich wie zu mir selbst und stand auf, weil ich die Situation auf einmal nicht mehr bewältigen konnte. Schlecht im Bett – was war für Gianna schlecht im Bett? Galt das auch für Colin? War ein Mann schlecht im Bett, wenn er nie satt genug war, seine eigene Freundin in den Armen zu halten? Alles, was sie sagte, schien mir persönlich gemeint zu sein. Ich musste hier weg, mich beruhigen, nur für ein paar Minuten.
»Ich geh mich mal umsehen«, sagte ich beiläufig, obwohl meine Lippen zitterten, und umrundete die Palmen, um möglichst schnell aus dieser vermaledeiten Bar zu entkommen. Den normalen Ausgang wollte ich nicht nehmen, denn da befand sich die Theke, an der Colin stand und Getränke bestellte, und wie sollte ich ihm vernünftig erklären, was in mich gefahren war? Also wählte ich den etwas unorthodoxeren Fluchtweg zwischen zwei großen Blumenkübeln hindurch und über eine kleine Mauer, der mich in eine schmale Gasse führte, wo ich mich sofort auf die Türschwelle eines verlassen wirkenden Hauses sinken ließ.
Warum musste dieser Typ solch einen Song spielen? Konnte er nicht etwas Flottes, Oberflächliches wählen? Warum ausgerechnet diesen hier? Immerhin nicht die Schicksalsmelodie, hatte Gianna gesagt, doch für mich hörte sie sich an wie eine Schickalsmelodie. Diese Grischa-Sehnsucht musste aufhören, ein für alle Mal. Ich verfluchte meine Seele für ihre Dummheit, ja, in diesem Punkt war sie unsäglich dumm, dümmer noch als Tessa, denn sie begriff nicht, dass Grischa ein Fremder war, den ich wahrscheinlich nicht einmal gekümmert hätte, wenn ich vor seinen Augen in Lebensgefahr geraten wäre. Er hätte
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