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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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wolle er in den Lärm hineinlauschen. Moment, diesen Blick kannte ich, dieses Wittern … ein feines Schnobern der Nasenflügel und eine plötzliche Starre in den Pupillen. Was spürte er? Doch in der nächsten Sekunde entspannte sich seine Miene wieder zu seiner üblichen Unnahbarkeit und er drehte sich mit einer fließenden Bewegung von uns ab, um zur Bar zu schlendern und uns ein paar Drinks zu holen.
    Er war kaum außer Sichtweite, als fast alle Lichter ausgingen und die Musik aus den Boxen verstummte. Ich dachte sofort, dass es etwas mit Colins Aura zu tun haben musste – das kannte ich schon, er brachte die Technik zum Ersterben, obwohl es heute so schnell wie noch nie gegangen war. Doch dann bemerkte ich überrascht, dass es gar nichts mit ihm zu tun hatte. Es war Absicht. Eine süditalienische Inszenierung! Nun begann offenbar der romantische Teil des Abends, denn die künstliche Musik aus den Boxen wurde durch echte, handgespielte ersetzt. Kalabrien machte Stimmung. Ich fiel sofort darauf herein. Wie im Traum wandte ich meinen Kopf zu dem Podest mit dem Flügel, dessen falsche Tasten von eleganten, langen Fingern hinuntergedrückt wurden.
    Ja, das musste ein Traum sein. Das konnte nur ein Traum sein. Wahrscheinlich hatte ich doch die Pest und lag längst im Delirium. Denn Grischa hatte nie Klavier gespielt. Ich hatte nicht viel über ihn herausfinden können, aber zumindest so viel, um zu wissen, dass Musik sein schlechtestes Fach gewesen war und er es in der Oberstufe sofort abgewählt hatte. Wenn Grischa in einer kalabrischen Bar Klavier spielte, konnte es sich nur um einen Traum handeln. Einen Fiebertraum. Und das erklärte einiges.
    »Oh nein«, murmelte ich betroffen. »Ich werde doch sterben …«
    »Was redest du da, Ellie? So schön ist er auch wieder nicht«, erwiderte Gianna amüsiert. »Gut, ich gebe es zu, er ist schön, vielleicht sogar schöner als jeder Mann, den ich bisher gesehen habe – scusa, Paul –, aber keine Frau muss wegen eines schönen Mannes sterben. In spätestens fünf Jahren hat er eine Glatze und bekommt einen Bauch. Blonde Männer werden schnell kahl.«
    »Danke, Gianna«, ätzte Tillmann, doch wir beide beachteten ihn nicht.
    Blonde Männer? Meine Verwirrung steigerte sich ins Unermessliche. In diesem Traum passte gar nichts zueinander. Grischa war nicht blond. Sondern dunkelhaarig. Dunkelhaarig mit braunen Augen, eigentlich nichts Besonderes, wäre da nicht …
    »Oh«, versuchte ich meiner Verwunderung einen passenden Laut zu verleihen, als sich mein Blick zu klären begann. Nein, ich träumte doch nicht. Und dieser junge Pianist war auch nicht Grischa. Er fühlte sich nur an wie Grischa und das alleine war schon mehr, als ich im Augenblick verarbeiten konnte. Seine Haltung, seine Körperausstrahlung, seine Art, den Kopf beim Spielen zu bewegen, seine Augen – die ich von der Ferne eigentlich kaum erkennen konnte –, all das ähnelte Grischa, als verfügten beide über mindestens achtzig Prozent übereinstimmendes Genmaterial.
    Und doch war er so anders. Blond, wie Gianna treffend erwähnt hatte. Weizenblond. Ich hatte diese Bezeichnung oft gelesen, aber nie gesehen, weizenblond, eine Bezeichnung aus Romanen. Hier passte sie. Weizenblonde, weiche Locken, kurz geschnitten im Nacken, oben einen Tick länger, aber alles in allem eine Knabenfrisur, zeitlos und modern zugleich. Models hatten solche Frisuren. Wie bei Grischa saß sie perfekt, obwohl er zwei deutlich ausgeprägte Wirbel hatte. Sie saß perfekt, weil dieses Haupt keine Unstimmigkeiten zuließ. Ein anmutig gewölbter Hinterkopf über einem starken, aber schlanken Hals, dazu eine Stirn, die weder zu hoch noch zu niedrig war … bei solchen Grundvoraussetzungen konnte keine Frisur schlecht sitzen. Nicht eine der gebleichten Strähnen in seinem Haar war künstlich, sie waren alle von der Natur kreiert, vermutlich trug er sie sogar im Winter.
    Sein Alter – ebenfalls grischakompatibel. Um die zwanzig, schätzte ich. Dabei machte er einen sehr jungenhaften Eindruck, ohne unreif zu wirken. Eine Mischung, die mich bei Grischa schon immer magisch angezogen hatte. Es gibt eben mehr als nur ein Königskind auf dieser Welt, sagte ich mir tapfer und hoffte, dass Colin bald die Drinks bringen würde, damit ich den bitteren Schmerz in meinem Herzen fortspülen konnte.
    Sie war also doch noch da, meine alte, schlecht vernarbte Grischa-Sehnsucht, und ausgerechnet hier, in einer süditalienischen Bar fern von zu Hause und

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