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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ließen, was er getan hatte. Schon begann ich meine Vorwürfe zu formulieren und zu begründen, Argumente hatte ich wie Sand am Meer, doch ich wusste genauso gut, dass keines von ihnen auch nur die geringste Wirkung zeigen würde. Für ihn wäre es nur das weinerliche, nutzlose Gewäsch eines kleinen Mädchens.
    Er hatte mich betrogen und belogen, von Beginn an, er hatte mit mir gespielt, ohne Rückgrat und Gewissen. Er war sogar mit mir an den Ort der Hinrichtung gefahren, wo das Blut meines Vaters noch die Felsen benetzte, und hatte mir erzählt, wie schön die Welt doch sei, und sich selbst mit Sagen und Legenden geschmeichelt.
    Oder war ihm gar nicht bewusst gewesen, was er da getan hatte? Hatte er keinen Bezug mehr zur Elternliebe? Auf einmal erinnerte ich mich daran, wie gleichgültig er von seinen Eltern gesprochen hatte; es war ihm nur darum gegangen, seinen eigenen Weg zu gehen, ewig zu leben, und offenbar war es für ihn ein Leichtes gewesen, sie im Glauben zu lassen, er sei im Krieg gefallen.
    Oh, und dazu die pazifistischen Reden, die er geschwungen hatte … Er habe sich nicht durch den Dreck winden und wahllos Menschen töten wollen, nur weil es ihm ein Fremder befahl … Nein, ich durfte nicht weiter darüber nachdenken, mich nicht in Einzelheiten verlieren, jede von ihnen ein mit ätzender Flüssigkeit gefülltes Geschoss, das nicht ihm galt, sondern mir selbst, weil ich Tag und Nacht nichts anderes mehr getan hatte, als von ihm zu träumen und ihm meine Fantasien und Wünsche zu widmen.
    »Warum? Warum hat er das gemacht? Papa hat ihm doch gar nichts getan, wieso hat er ihn getötet?«
    »Weil er niemanden zwischen den Welten duldet. Er ist ein Diktator, der einzige und erste, den wir jemals hatten. Zumindest hält er sich dafür. Dein Vater sträubte sich, auf unsere Seite überzutreten, er sträubte sich selbst unter größtem Druck. Er wollte das Menschliche in sich bewahren. Er war der Letzte seiner Art. Alle anderen hat Angelo bereits hingerichtet oder dazu gebracht, die Metamorphose vollenden zu lassen. Viele waren es ohnehin nicht mehr.«
    Der Letzte seiner Art … Es gab keine Halbblüter mehr. Papa war das letzte Halbblut gewesen. Die Liste war überflüssig geworden, doch gegeben hatte es sie, auch in diesem Punkt: Lügen, nichts als Lügen. Von wegen, Papa sei freiwillig übergetreten …
    Wer nicht ging, wurde hingerichtet.
    »Er hätte ihn doch zur Metamorphose zwingen können, warum hat er das nicht getan?« Ich wunderte mich darüber, wie fest meine Stimme klang und dass ich meine Fragen zu Ende formulieren konnte. Es musste etwas mit dem zu tun haben, was Morpheus mit mir gemacht hatte, um es mich besser ertragen lassen zu können.
    »Er möchte nur willfährige Diener um sich herum. Deinen Vater zu zwingen, wäre ein zu hohes Risiko gewesen. Die Metamorphose alleine hat ihre Macht verloren. Es ist einfacher, die zu töten, die sie nicht wollen, und auf jene zu hoffen, die sie freiwillig annehmen und sogar darum bitten. Denn sie werden dankbar sein und alles tun, was es braucht, um die Ewigkeit angenehm und satt zu gestalten.«
    Ja. So wie ich es beinahe getan hätte. Ich hatte mir die Ewigkeit nur gemeinsam mit Angelo vorstellen können, nicht ohne ihn. Sie war an ihn geknüpft gewesen, es gab keine Unendlichkeit, in der ich nicht an seiner Seite war. Ich hatte geglaubt, die Richtige gewesen zu sein, die einzig Richtige. Etwas Außergewöhnliches.
    Ich konnte gerade wieder einigermaßen stabil und aus eigener Kraft stehen, als erneut die Bilder durch meinen Kopf rasten. Ich musste mir den Tod meines eigenen Vaters ansehen, immer und immer wieder. Wie sollte ich jemals wieder lachen können?
    Ich fragte mich, warum Morpheus so ruhig geblieben war, als er die Hinrichtung beobachtet hatte. Kein inneres Aufschreien, keine Aufregung, keine Trauer. Und trotzdem war ein Elend in ihm gewesen, das bitterer und gequälter war, als das größte Erschrecken es je sein konnte – das Elend eines über zweitausend Jahre andauernden Lebens. Zweitausend Jahre … wieso hatte er dann nichts dagegen getan, sondern es lediglich in seine Hände genommen? Papas Herz hatte noch geschlagen! Er hätte ihn retten müssen!
    »Du Feigling!«, wisperte ich. »Warum hast du ihn sterben lassen? Warum kuschst du vor Angelo? Du hast nur zugesehen …«
    »Er hatte die Kapsel bereits genommen. Wir wussten beide, dass dieser Tag kommen würde.«
    »Welche Kapsel?« Mir lief ein heißer, kränklicher Schauer über den

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