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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Rauschen seine Arbeit.
    Kurz verblassten die Felsen und das Meer vor meinen Augen, bis sie klarer und farbiger denn je vor mir erschienen. Doch es war nicht mehr das dunkle, mit Rot vermischte Vulkangestein von Thira, sondern eine graue, zerfressene Felsformation, von gelben, vertrockneten Ginsterbüschen und wulstigen Feigenkakteen durchsetzt. Auch das Meer unter mir hatte eine andere Farbe, azurblau vermischt mit tropischem Türkis. Ich hörte die Fische durch das Wasser gleiten und roch ihre glänzenden Schuppen, obwohl ich mich weit über ihnen befand, doch überraschen konnte dieses Phänomen mich nicht mehr. Es war eben so.
    Ich mochte diesen Ort, das Capo Vaticano, ein mythischer Platz, doch meine Vorsehung sagte mir, dass er heute seinen Zauber verlieren würde – wieder ein Ort mehr auf der Welt, an dem ich keine Ruhe mehr finden konnte. Es gab kaum ein Fleckchen Land, auf dem keine Knochen gebrochen, keine Körper geschändet und keine Seelen grausam zerstört worden waren. Die Erde war ein Schlachtfeld, der Boden von Blut getränkt und ich wollte es endlich verlassen können.
    Leichtfüßig kletterte ich hoch über dem Meer die steilen Felsen entlang, kein einziges Mal war ich in Gefahr zu stürzen – und wenn, hätte es auch nichts an meiner ewigen Verdammnis geändert. Der nördliche Wind zerrte eisig an meinen dünnen Kleidern. Ich registrierte, dass er kalt war, aber seine Böen lösten keinerlei Gefühle in mir aus, kein Frieren, aber auch keine Erquickung. Es war mir gleichgültig, welches Spiel die Natur mir präsentierte; ich spürte es sowieso nicht.
    Hier ging es nicht um sie. Es ging um uns, die wenigen, die geblieben waren und bereit, sich einander zu zeigen. Wie in Stein gehauen standen sie auf den einzelnen Felsen, ihre Gesichter leer und hohl, ihre Augen tote Löcher ohne Pupillen.
    Dann tauchte Angelo aus einer Felsspalte auf, mit dem Rücken zu mir, ein schweres Bündel auf seiner rechten Schulter. Ich erkannte ihn sofort an seinem blonden Schopf und seinen jugendlich-unbekümmerten Bewegungen, die ihn auch dann nicht verließen, als er das Bündel über seinen Kopf hob und mit brachialer Wucht auf den scharfkantigen Felsen vor ihm schleuderte, es von Neuem hob und gegen den nächsten Stein krachen ließ, es war beinahe wie ein Tanz, ein Schritt, ein Schleudern, ein Schritt, ein Schleudern. Es erfüllte ihn mit Lust und Macht, das zu tun. Reglos schauten die anderen ihm zu.
    Das, was hier geschah, war kein simpler Mord. Es war eine Hinrichtung.
    Ich trat näher an ihn heran, bis meine Ahnung ihre schreckliche Bestätigung fand. Das Bündel war ein Mensch, ein Mensch mit braunem, lockigem Haar und dunkelblauen Augen, die schon nicht mehr hier waren. Seine nackten Arme und sein Gesicht waren übersät von tiefen Schnittwunden und Blutergüssen und dennoch sah er berückend schön und entspannt aus. Er hatte vorgesorgt, so wie er es angekündigt hatte.
    Begriff Angelo denn nicht, dass er gar nichts mehr spürte? Warum hieb er seinen Körper weiterhin gegen die Felsen, wir alle hatten es doch gesehen? Es genügte. Wenn er ihm weiterhin so zusetzte, würde es mir die Zeit nehmen, das zu tun, was ich ihm versprochen hatte. Zum ersten Mal seit unendlich vielen Jahren musste ich mich beeilen.
    »Angelo.«
    Seine Bewegungen gefroren, das Bündel weit über seinen wehenden Locken. Sein zufriedenes Lächeln erstarb, als er sich zu mir umdrehte. Eine seelenlose, verschwommene Maske.
    »Gib ihn mir. Ich will es tun. Ich habe so lange darauf gewartet.«
    Er würde mir nicht widersprechen. Ich besaß mehr Macht, als er jemals erlangen würde. Er musste sich mir fügen.
    Er ließ das Bündel fallen, doch ich war rasch genug bei ihm, um es aufzufangen und wie er über meinen Kopf zu erheben, um sein Gesicht auf die Felsen zu schlagen und Millimeter vor dem Aufprall abzufedern, sodass ich nichts mehr in ihm zerstörte. Ich täuschte sie. Und immer dann, wenn ich ihn über mich in die klare, reine Winterluft streckte, wanderten meine Gedanken zu seinen, in seinen Kopf und sein Herz, das noch schwach schlug, und ich gab ihm das, worum er mich gebeten hatte, falls es geschehen würde.
    Ich wanderte mit ihm über die schroffen Klippen nach unten, zum Meer hinab, während ich seinen Körper durch die Luft wirbelte, und zum letzten Mal verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, als er sah, was auch ich sah, während wir eins wurden – zwei Kinder, die uns anschauten, ein Mädchen und einen Jungen, beide ihm aus

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