Dornenkuss
dem Gesicht geschnitten und doch so unterschiedlich. Das Mädchen scheu und wild zugleich, unbezähmbar ihr Geist, voller Fragen, Widersprüche und Ängste; der Junge ruhig und geduldig, aber stur wie ein Ochse und überzeugt davon, dass er sein Glück verdient und das Recht hatte, sich jedem in den Weg zu stellen, der es ihm streitig machen wollte.
Ich sah meine Frau, die schon lange wusste, was nun passieren würde und mich dennoch immer lieben würde, die bereit war zu trauern und für die es Erlösung bringen würde, wieder schlafen zu können. Ich wollte ihn ihr schenken, den Schlaf, und ich tat es gerne, denn irgendwann würden wir wieder beieinander schlafen, ohne Hunger und Angst, und gemeinsam träumen können.
Sie sahen mich an, liebevoll und ernst, als Morpheus mich ein letztes Mal über seinen Kopf erhob und hinab ins Meer warf, und ich hörte ihre Worte wie ein Lied, das mich begleitete, als die Wellen mich mit hinaus auf die See nahmen.
Wir lieben dich, Leopold Sturm. Wir lieben dich für immer.
»Mein Vater …« Ich schwebte sacht zurück in meinen eigenen Leib, so verletzlich und sterblich, doch es war nicht mehr ich, die ihn halten konnte. Morpheus hielt mich, während meine Brust krampfhaft und voller Schmerz wieder zu atmen begann.
»Mein Vater ist tot …«, flüsterte ich bebend.
»Ja, mein Kind. Dein Vater ist tot.«
Papas starker Körper trudelte in gemächlichen Kreisen auf den sandigen, tiefen Grund hinab und ein letztes Mal schlug er seine Augen auf.
Die Welt ist so schön, dachte er. Und starb.
ABGLANZ
»Wann? Wann ist es geschehen?«
Noch immer konnte ich nicht aus eigener Kraft stehen, doch Morpheus hielt mich so sicher und fest, dass ich nicht in Gefahr war zu fallen. Ich tat gut daran, meine sterbliche Hülle seinen Händen zu überlassen.
Eigentlich musste ich nicht fragen, wann es geschehen war. Der Wind war eisig gewesen und der Strand unter uns menschenleer, nicht bunt gesprenkelt von Sonnenschirmen und Badelaken wie an jenem heißen Nachmittag, an dem ich das Capo Vaticano zum ersten Mal erblickt und sofort geliebt hatte. Trotzdem musste ich diese Frage stellen; ich musste sichergehen, dass es nicht geschehen war, während ich zusammen mit Angelo durch die Nacht gewandelt war und ihm mein Vertrauen geschenkt hatte – nicht nur mein Vertrauen, sondern auch meine Zukunft, mein ganzes Leben. Denn das würde ich mir niemals verzeihen können.
»Im Frühjahr, kurz vor den Iden des März.«
Die Iden des März. Sie verhießen Unheil, schon immer war das so gewesen. Ich legte meine Arme um Morpheus’ Hals und versuchte, meine Füße auf den Boden aufzusetzen, um allein zu stehen, weil ich glaubte, meine Gedanken und Fragen auf diese Weise besser ordnen zu können. Doch es gelang mir nicht.
Ich hätte weinen und wüten sollen; was ich eben gesehen hatte, hätte mich innerlich zerfressen müssen. Ich hätte mir gegen die Brust schlagen müssen wie ein Klageweib, denn ich ahnte, dass dies der einzige Weg war, mit solch großem Schmerz umzugehen, anstatt sich still und stumm in ihm zu vergraben und geduldig zu warten, bis er vorüberging.
Doch nichts dergleichen geschah. Ich begriff sehr wohl, was passiert war, und zweifelte keine Sekunde an der Wahrheit dessen, was ich erlebt hatte. Doch ich war nicht imstande, mir die Konsequenzen auszumalen. Ich konnte nur bis in die nächsten Stunden denken, nicht an das Morgen oder Übermorgen, nicht an all die Wochen und Monate, die ich ohne ihn leben musste, mit der schrecklichen Gewissheit, seinem Mörder meine ganze Zuneigung geschenkt und den Rest der Welt vergessen zu haben.
Auch ihn hatte ich vergessen. Meinen eigenen Vater. Mit einer solchen Schuld konnte niemand leben.
Doch es gab diese Konsequenzen in meinem Kopf noch nicht; wann immer ich versuchte, sie mir vorzustellen, zersprangen meine Gedanken in Abertausend winzige Scherben und waren nicht mehr lesbar.
War es also das, was den Tod eines geliebten Menschen unerträglich machte – die Zukunft? Die Angst davor, ohne ihn zu sein, Tag für Tag, Stunde für Stunde? Es war gar nicht die Trauer selbst, sondern die Angst vor ihr, die Angst vor dem niemals endenden Verlust?
Doch für mich waren im Moment andere Fragen wichtiger; hinzu kam der blanke Hass, der sich ruckartig durch meinen Bauch wühlte und das Bedürfnis in mir weckte, ihn in Worte zu fassen und sie meinem Verräter entgegenzuschleudern wie Felsbrocken, die ihn töten würden oder wenigstens begreifen
Weitere Kostenlose Bücher