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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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geworden. Hatte ich überhaupt noch gegessen? Abgemagert war ich nicht; sehr schlank und trainiert, vielleicht zu schlank, aber nicht dürr.
    Trotzdem machte ich sicherheitshalber Pausen zwischen den Bissen, in denen sich tiefe, schwere Seufzer aus mir befreiten, gegen die ich nichts ausrichten konnte. Meine Gedanken und Fragen formten diese Seufzer, ich schaffte es nicht, ihnen Einhalt zu gebieten, und jetzt, wo ich saß und nicht lief, zogen sie neue Fragen nach sich, vor denen es kein Entrinnen gab.
    Ich hatte Angelo vertraut, ich hatte keinen Anlass gefunden, es nicht zu tun; keines seiner Worte hatte das Gegenteil in mir auslösen können. Alles, was er getan und gesagt hatte, hatte Hand und Fuß gehabt. Jeder logisch denkende Mensch hätte es nachvollziehen können. Oder war ich zu dumm gewesen, zu naiv und gutgläubig? Vielleicht war es so, vielleicht war ich nur eine gute Schülerin, eine Streberin, doch in den großen Aufgaben des Lebens versagte ich.
    Ich durchforstete meinen Kopf nach Anhaltspunkten, die mich hätten warnen können, und fand keine – aber wenn ich keine fand, bedeutete das nicht, dass ich auch Colin misstrauen musste? Konnte es nicht sein, dass er ebenso hinter meinem Vater her gewesen war wie Angelo? War er dabei gewesen, als es geschah, eine von den starren Gestalten auf den Felsen, Gestalten ohne Gesichter? Warum hatten sie keine Gesichter gehabt? Sämtliche Mahre, die ich bisher gesehen hatte, hatten Gesichter gehabt, eindrucksvolle sogar. Ja, es konnte sein, dass Morpheus in seine Erinnerung eingegriffen hatte und die Gesichter für mich verschwinden ließ, damit ich nicht sehen konnte, dass Colin einer von ihnen gewesen war. Er hatte mich schließlich schonen wollen … Auch Tessas Gesicht hatte ich nicht sehen können, als ich im vergangenen Sommer in Colins Erinnerungen gewandelt war. Mahre waren dazu in der Lage, ihre inneren Bilder zu retuschieren.
    Aber konnte Colin das fertigbringen – tatenlos zusehen, während mein Vater umgebracht wurde? Konnte er das?
    Und warum in aller Welt sehnte sich immer noch etwas in mir nach Angelo, warum tat es weh, wenn ich mir vorzustellen versuchte, wie das Leben ohne ihn sein würde, ohne den Luxus, ihm bei dem zusehen zu können, was er so tat, und wenn es nur das Spielen auf dem Klavier war, etwas, von dem ich eigentlich gar nichts verstand? Warum bekam ich Angst, wenn ich daran dachte, ihn niemals wiedersehen zu können?
    Ja, was Angelo betraf, konnte ich in die Zukunft denken. Einen faulen Zauber hatte Morpheus mir da aufgebürdet. Hätte er diesen Punkt nicht auch berücksichtigen können? Es war pervers, dass ich immer noch zu ihm wollte und alles wiedergutmachen. Mich entschuldigen! Ich durfte mich nicht entschuldigen, wofür denn?
    Ich wusste doch ganz genau, was er getan hatte, ich durfte ihm keine Sekunde meiner Nähe schenken, das wusste ich!
    Während meine Sehnsucht und mein Kopf erbittert miteinander stritten, aß ich in langsamen Bissen meinen Teller leer, beglich die Rechnung und verließ das Restaurant. Ich trug keine Uhr mehr, ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch in den Gassen wurde es ruhiger.
    Erst jetzt bemerkte ich die Hunde. Ich war kein ausgewiesener Hundefreund; Rossinis Rettung war eine notwendige Maßnahme gewesen und mein Herz hatte danach verlangt, er konnte schließlich nichts für sein schauderhaftes Herrchen und war bei Herrn Schütz gut aufgehoben, aber eigentlich war ich eher den Katzen zugeneigt. Doch diese Tiere sahen mich anders an als die Hunde, die ich bisher kennengelernt hatte.
    Sie lebten offensichtlich wild, obwohl sie wohlgenährt wirkten; keiner von ihnen trug ein Halsband und sie bildeten kleine Rudel. Niemals bellten oder knurrten sie, sie wichen den Menschen umsichtig aus, schliefen am Rande der Gasse oder auf den kleinen Mäuerchen, manchmal auch auf den Dächern der weiter unten liegenden Häuser. Obwohl es sich bei allen um waschechte Promenadenmischungen handelte, strahlten sie einen würdevollen Stolz aus, den ich einem Hund niemals zugetraut hätte.
    Ich setzte mich auf eine Mauerkante und ließ die Beine baumeln. Das kleine Rudel, bestehend aus einem alten grauen Schäferhundmix, dem Anführer der Gruppe, und vier undefinierbaren, kniehohen Kreuzungen mit langen Beinen und schmalen Köpfen, legte sich vor mir auf den Weg, die Schnauzen auf den Pfoten, und wartete. Ihre braunen, sanften Augen blieben geöffnet, ihre Ohren lauschten. Worauf warteten sie? Ich versuchte, ihre

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