Dornenkuss
wissen? Aber …«
Doch Morpheus hatte sich schon umgewandt und von mir entfernt, ein kleiner sehniger Mann, der in einer Gruppe Touristen untertauchte, als hätten wir niemals miteinander gesprochen.
Ich wartete darauf, dass ich zusammenbrechen würde, weinend und zitternd, vielleicht musste ich mich auch übergeben oder würde mein Bewusstsein verlieren, damit ich nicht mehr über das nachdenken konnte, was geschehen war. Doch noch immer kehrten meine Gedanken von alleine um, sobald sie an den Punkt gelangten, wo ich mich fragen musste, wie ich von nun an existieren sollte.
Dass sie von allein stoppten, hielt meine Überlegungen allerdings nicht davon ab, sich unablässig neu zu bilden, sodass ich mich bald nach einem Stück Papier und einem Stift sehnte, um meine Fragen aufzuschreiben, obwohl ich mich vor den Antworten fürchtete.
Eine Frage war bald die lauteste von allen: Warum hatte Angelo es nicht dabei belassen können, meinen Vater zu töten? Für mich machte es noch immer kaum einen Unterschied, dass mein Vater den Zeitpunkt selbst gesetzt hatte, denn es war nicht von ihm entschieden worden, dass er sterben sollte. Warum musste Angelo sich mit mir anfreunden und mich an seine Seite ziehen? Pure Neugierde? Spieltrieb? Oder hatte er etwa wirklich etwas für mich empfunden? Allein die Vorstellung erfüllte mich mit Ekel, bis ich glaubte, würgen zu müssen. Ich wollte mich selbst schlagen, weil ein Teil von mir sich trotz dieses Ekels immer noch nach ihm sehnte, ihn als den Richtigen ansah, den Richtigen für mich, bei ihm sein wollte, seine Selbstgefälligkeit vermisste.
Doch Morpheus hatte gesagt, dass es andere Dinge zu tun gebe, und obwohl mich sein allzu nebulöser Auftrag überforderte, stand er unmittelbar bevor und ich sollte mich damit auseinandersetzen, vielleicht auch, weil ich hoffte, damit meinen selbstzerstörerischen Grübeleien für eine Weile zu entfliehen.
Heute Nacht, hatte Morpheus gesagt. Nicht heute Abend. Die Sonne war gerade erst untergegangen und die Dunkelheit barg eine Transparenz und Klarheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Mir blieb noch ein wenig Zeit bis zur Nacht, also tat ich das, was er mir aufgetragen hatte, und ich tat es ohne Eile: Ich mischte mich unter die Menschen.
Zum ersten Mal, seit ich auf die Insel gelangt war, ließ ich den Zauber von Oia auf mich wirken. Ich war unfähig, mich zu freuen oder zu trauern, doch ich war empfänglich für Schönheit und Ästhetik und von beidem gab es hier im Überfluss. Schmuckboutiquen und Kleinkunstläden reihten sich zwischen pittoresken Cafés und Restaurants, alle unter freiem Himmel und mit Blick auf das Meer. Die bunten Fassaden der Häuser leuchteten auch im Dämmergrau, mal von modernen Spots angestrahlt, mal von weichem gelbem Kerzenlicht oder dem knisternden Flackern der Fackeln erhellt, mit denen einige der Cafés gesäumt wurden. Kein Kitsch, keine Billigläden, keine Bausünden weit und breit, alles hatte Stil und Flair; es war unmöglich, sich vernünftig zu entscheiden, in welches Lokal man sich setzen sollte, denn jedes barg seinen eigenen Charme. Das Essen war dabei nebensächlich, das Schauen und Genießen die Grundlage allen Seins. Nicht einmal die unübersehbare Tatsache, dass die Küste an jeder Stelle des Ortes steil abfiel, konnte mich in Panik versetzen. Nein, es beruhigte mich sogar, mich so hoch über dem Meeresspiegel zu befinden.
Diese Insel war durch den Ausbruch eines gewaltigen Vulkans entstanden, ich befand mich auf seinem Rand und die See hatte seinen Krater gefüllt, doch wann immer ich auf das Meer sah – so finster es sich auch unter mir ausbreitete –, schlug mein Herz langsamer und zufriedener. Das hier war ein Ort, der in den Menschen die Sehnsucht wecken konnte, alles stehen und liegen zu lassen, was vorher wichtig war, und zu bleiben.
In meinen Hosentaschen fand ich genügend Geld, dass ich in jedem der Geschäfte etwas für mich hätte kaufen können, doch ich setzte mich nur in eines der Restaurants und bestellte mir einen Teller Nudeln. Ich fand es schändlich, jetzt etwas zu essen, aber ich hatte Hunger und mein Bauch verlangte mit jener Rücksichtslosigkeit nach Nahrung, mit der er mich früher oft aus der Fassung gebracht hatte. Ich hatte zum wilden Tier werden können, wenn ich Hunger verspürte und nichts zu essen in der Nähe war. In den vergangenen Wochen – wie viele Wochen, welchen Monat hatten wir, welche Jahreszeit? Ich wusste es nicht! – war er nebensächlich
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