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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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vollständige Sätze bilden können. Süden, Augen, Gefahr, das konnte alles und nichts bedeuten. Süden und Gefahr, okay, bei diesen beiden Worten tippte ich auf Angelo oder Tessa oder beide. Aber Augen? Was hatten die Augen in diesem hochintellektuellen Dreigestirn der mahrischen Telefonkunst zu suchen? Oder hatte ich Morpheus damals nur falsch verstanden? Die Augen passten nicht hinein. Und doch war es das Wort, das am schwersten zu wiegen schien. Hatte er damals schon Grischas Brief gelesen? Und war Papa schon tot gewesen?
    Ich gab seufzend auf, trotz der großen Gefahr, der ich entgegenreiste. Es hatte sowieso keinen Zweck, ich durfte nicht nachdenken, durfte keine Pläne fassen. Zumindest keine Pläne, die Angelo verraten konnten, dass ich wusste, was er all die Jahre getan hatte, und etwas dagegen unternehmen wollte.
    In einem plötzlichen Müdigkeitsschauer rutschten meine Hände von der Reling und mein Kinn knallte gegen das salzverkrustete Metall. »Autsch«, murmelte ich schläfrig, bevor ich mich gähnend wieder aufrichtete und hinüber zum Führerstand des Bootes schaute. Mir war der Fischer, zu dem Morpheus mich geführt und den er mit einem knappen Nicken begrüßt hatte, von der ersten Sekunde an nicht ganz koscher vorgekommen. Kein anderer Mahr würde sich auf diese Insel wagen, hatte Morpheus gesagt. Sie sei sein Jagdrevier. Aber Colin war zu ihm gekommen, drei Mal sogar, auch Papa war nach Santorin gereist, unter anderem, um Morpheus das Telefonieren beizubringen (eine Vorstellung, bei der ich traurig lächeln musste), und mein Vater war immerhin ein Halbblut gewesen.
    Dieser Fischer hier hatte bislang kein Wort mit mir gesprochen, er richtete seine rehbraunen Augen, über denen sich dichte, struppige Brauen wölbten, stur auf den Horizont. Doch mir fiel seine Unbeholfenheit im Umgang mit der modernen Technik auf. Das Funkgerät hatte er vorhin ausgeschaltet, weil es nur noch unkontrolliert knatterte und rauschte, und der Radarbildschirm im Bordcomputer zeigte keine Seekarte, sondern grauweiße Schneeschauer. Nichts funktionierte mehr. Aber all das brauchte der Mann gar nicht, er trug seinen Kompass im Kopf, weil er dieses Meer kannte, wie kein elektronisches Gerät es jemals konnte, und nahm Schiffe wahr, bevor er sie auf dem Radar sehen konnte – weil er die Träume der Besatzung witterte. Er musste ein Mahr sein. Morpheus und er waren friedlich miteinander umgegangen, in einem stillen, melancholischen Einverständnis. Vielleicht bezeichnete Morpheus ja nur jene seiner Artgenossen als Mahre, die sich dem raffgierigen, gewissenlosen Rauben verschrieben hatten, und die wenigen anderen waren Menschen für ihn?
    Wieder musste ich gähnen; es kam so schnell, dass ich nicht mehr die Hand vor den Mund nehmen konnte. Ungeniert bleckte ich meine Zähne. Meine Gedanken wurden so träge und meine Lider so schwer, dass ich mich an Ort und Stelle auf die schwankenden Schiffsbohlen legte, den Körper in der Sonne, den Kopf im Schatten, meine Tasche als Kissen unter dem Nacken.
    Ich erschrak nur leicht, als meine Tagtraumbilder von ganz allein wieder zu Angelo zurückkehrten, nicht zornig, sondern reumütig und bittend. Sobald ich meine Augen schloss, sah ich seine und sehnte mich nach ihm – eine tief verankerte, zehrende Sehnsucht, die mich schon seit Jahren begleitete und zu mir gehörte wie mein widerspenstiges Haar und meine tausend kleinen und großen Ängste. Gegen sie würde ich niemals siegen und ich wollte es auch nicht mehr. Ich durfte schließlich keine Pläne fassen, ich durfte … nicht …
    »Nein!«, weckte ich mich mit schwacher, zitternder Stimme. »Nein, Ellie!«
    Ich sollte mich auf meine Gefühle einlassen, sie mir gestatten? Aber ich wollte nicht vergessen, was passiert war, auf keinen Fall! Das widersprach sich … Und was war mit Colin? Colin, der eben beinahe schon wieder weggedriftet war – er musste doch erfahren, was all die Jahre geschehen war, er musste wissen, dass mein Vater tot war, er musste mir helfen, mich zu erinnern … Doch vor allem musste ich ihn um Verzeihung bitten. Das musste ich tun, auch wenn es mein Leben und gleichzeitig meine Sterblichkeit gefährdete, weil Angelo es in meinem Kopf lesen konnte. Ich musste zu ihm. Wahrscheinlich würde ich sowieso sterben und ihn verlieren, aber wenn, dann wollte ich ihn vorher wenigstens noch ein Mal sehen.
    Die Gefahr war zu groß, dass ich meinen Gefühlen erlag, ohne Colin gesagt zu haben, wie leid mir tat, was ich ihm

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