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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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dachte ich, als das überschaubare, aber gut motorisierte Fischerboot im Morgengrauen vom Hafen Ammoudi ablegte und die Deckbohlen unter meinen Füßen zu vibrieren begannen. Keinerlei Plan hegen und trotzdem das aufhalten, was bereits seinen Gang nahm? Sogar mit einem Plan wäre es mir aussichtslos vorgekommen, bei Weitem aussichtsloser als unsere ausgefeilte Vernichtungsaktion gegen François und der Mord an Tessa. Ich konnte mich ja ohnehin nicht mehr entsinnen, was genau wir bei Tessa getan hatten, um sie zu töten; ich wusste lediglich, dass sie irgendwann in unserem Salon gelegen hatte, kein Dämon mehr, sondern eine uralte, dahinsiechende Frau, und ich ihr die Spritze gesetzt hatte. Alles, was davor geschehen war, hatte sich im Nebel meiner verlorenen Erinnerungen aufgelöst.
    Schon allein deshalb kam ein Mord nicht infrage. Außerdem musste man einen Mord planen, jedenfalls dann, wenn er einem ungleich Stärkeren galt, und planen durfte ich nicht. Abgesehen davon fühlte ich mich nicht gewillt, ein weiteres Mal zu töten. Das hätte auch Morpheus erledigen können. Es wäre zu einfach, hatte er gesagt. Zu leicht. Für ihn mochte das ja zutreffen, aber für mich schien alles, was jetzt kam, eine kaum zu bewältigende Aufgabe, bei der ich genau das nicht tun durfte, was ich gerade erst mühsam wiedererlangt hatte, wenn auch eher wie ein Grundschuldkind als wie eine Erwachsene: denken. Überlegen. Abwägen.
    Dennoch versuchte ich mich der anderen beiden Anrufe von Morpheus zu entsinnen, die er von der einzigen Telefonzelle Oias aus getätigt hatte. Was hatte er mir gesagt? Ich lehnte meine Stirn gegen die kühle Metallstange der Reling, um mich zu fokussieren, denn das unregelmäßige Wogen der Dünung wirkte auf mich wie Alkohol, es ließ meine Gedanken bereits jetzt unscharf werden, obwohl wir die Insel noch sehen konnten. Der erste Anruf … Er hatte mich in einer Gewitternacht erreicht, als ich allein zu Hause gewesen war und mich zu Tode gefürchtet hatte. Ja, jetzt fiel es mir wieder ein – Morpheus hatte nach meinem Vater verlangt. Er hatte ihn sprechen wollen und ich hatte ihm gesagt, dass Papa in Italien sei.
    Der Zweck dieses Anrufes war für mich schnell geklärt: Vermutlich wollte er Papa Informationen über Colin mitteilen, denn der war schließlich der Grund gewesen, weshalb Papa überhaupt nach Italien aufgebrochen war. Wen hatte er dort eigentlich befragen wollen? Ich riss meinen Kopf ruckartig nach oben und verlor beinahe das Gleichgewicht, als eine ungeahnte Schlussfolgerung durch meinen Kopf raste. Als Papa vergangenen Sommer nach Italien gereist war, hatte er garantiert Angelo nach Colin befragen wollen. Die beiden waren in einem ähnlichen Alter, Angelo hatte Kontakt mit Papa gehabt, sich ihm gegenüber als der ängstliche Junge ausgegeben. War es Angelo gewesen, der ihm von Colins Fluch erzählt hatte? Konnte er überhaupt davon wissen? Ich hatte nie mit ihm über Tessa gesprochen, es hatte sich nicht ergeben – oder hatte ich instinktiv nichts von ihr erzählt? Wusste Angelo, dass wir sie getötet hatten? Es konnte ihm nicht entgangen sein …
    Einen Moment lang war meine Kehle wie stranguliert; es gelang mir kaum mehr, Luft zu holen. »Nicht durchdrehen, Ellie«, wies ich mich leise zurecht. Wenn Tessas Tod Angelo erzürnt hatte, hätte er mich längst umbringen können. Nein, es musste so sein, wie Morpheus es gesagt hatte: Angelo wollte die Freiwilligkeit, eine Freiwilligkeit, die er dank seines Charmes und seiner gewinnenden Ausstrahlung leichter hervorrufen konnte als jeder andere Mahr. Ob Tessa lebendig oder tot war, war ihm gleichgültig. Trotzdem hoffte ich, dass Morpheus ihm zuvorgekommen und er es gewesen war, der meinen Vater über Tessa und Colin unterrichtet hatte.
    Gut, der erste Anruf war geklärt – was war mit dem zweiten? Noch befand ich mich auf dem offenen Meer, weit weg von Italien, noch durfte ich nachdenken, auch wenn es immer aufreibender wurde. Der zweite Anruf hatte mich ebenfalls im Westerwald erreicht, in den frühen Morgenstunden. Plötzlich sah ich die drei Worte, die Morpheus in den Hörer gesprochen hatte, wie Leuchtzeichen aufblinken: Süden, Augen, Gefahr. Danach war die Verbindung abgebrochen und ich hatte in einem zerstörerischen Wutanfall das Telefon so oft gegen die Wand geworfen, bis es zerbrochen war.
    Auch jetzt regte sich Unmut in mir. Morpheus mochte das Telefonieren ja hassen, aber er hätte sich wenigstens ein bisschen anstrengen und

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