Dornenkuss
vorzustellen versuchte, wie Colin bei Morpheus gesessen und ihn mit Fragen gelöchert hatte. Er war hier gewesen, in diesem kleinen Raum. Sein Blut hatte diese Felsen benetzt. Meine Tränen fielen auf den Steinboden und hinterließen dünne, warme Spuren. Tränen, die er mir von den Wangen gepflückt hatte, mit seiner Zunge, bevor sie nur noch ihm galten und ich ihn verraten hatte.
Sobald ich mich ein wenig gefangen hatte, sprach Morpheus weiter. »Ich habe ihm seine Fragen beantwortet, so gut ich konnte. Doch was ich in mir trage, ist uraltes Wissen, für das es keine Beweise gibt. Mythen, Legenden, Göttergeschichten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber seitdem er wiederkam und mich beraubt hat, weiß ich, dass Colin die gleiche Sehnsucht treibt wie mich. Er möchte sterben. Niemand sollte ihn dafür anklagen, denn es ist das einzig Menschliche, was ihm jemals widerfahren kann. Wie sollte ich ihn verurteilen, wo wir diesen einen Wunsch teilen? Unser Leben und unser Tod liegt in deiner Hand, mein Kind.«
»Ich weiß die Formel doch auch nicht mehr …« Mit dem Handrücken wischte ich die Tränen von meiner Wange. »Ich erinnere mich nicht, ehrlich. Sie ist fort.«
»Weil sie verdrängt wird. Das ist das, was ich dir erlaubt habe. Ich habe dir erlaubt, all das zu verdrängen, was dich zu sehr schmerzt und belastet. Es ist wichtig, diesen Zustand beizubehalten, um handeln zu können. Aber du wirst die Formel wiederfinden.«
Im Moment war ich nicht erpicht darauf, sie wiederzufinden. Mir genügten mein Zorn und der Hass auf mich selbst – und die Angst vor dem, was geschehen würde. Denn es musste etwas geschehen. Die Welt konnte so nicht bleiben. Mit der blinden Verzweiflung einer Ertrinkenden krallte ich mich an die letzten verbliebenen Fragen, als könne ich damit die Katastrophe verhindern.
»Und Grischa? Woher wusstest du, dass er mit alldem zu tun hat?«
Morpheus ließ meine rechte Hand los und berührte zärtlich mein Haar. »Ich jage nur noch selten, ich lebe in Askese. Doch wenn ich jage, raube ich bei Menschen, die hierherkommen, um ihrem Leben zu entfliehen. Sie finden auf dieser Insel genügend Schönes, um sich anschließend zu trösten.« Wenn er das sagte, klang es anders als bei Angelo. Es klang aufrichtig bedauernd. Er bedauerte es, jagen zu müssen. Wie Colin. »Grischa kommt immer wieder hierher. Er hat sich in diese Insel verliebt. Sie ist sein Seelenheil geworden. Und jedes Mal trägt er einen Brief bei sich, zwölf Seiten, mit Tränenflecken in der dunkelblauen Tinte, zerknittert und zerlesen. Er versteht die eng beschriebenen Zeilen nicht, aber er liest sie immer wieder, ohne zu begreifen, warum. Es gelingt ihm nicht, den Brief ins Meer zu werfen, wie er es schon oft vorhatte.«
»Mein Brief. Es ist mein Brief!« Ich lachte unter Tränen. Grischa trug meinen Brief bei sich … Ich bildete mir nichts darauf ein; dass wir ohne unser Wissen aneinandergeschweißt worden waren, war allein Angelos Vermächtnis. Doch die Vorstellung, dass er meine Zeilen bei sich trug, sorgte für das, was Angelos Psychodrama niemals geglückt wäre – es glättete die Wogen in meiner Seele, die sich immer dann unruhig erhoben, wenn ich an Grischa dachte. »Und du hast erkannt, dass er von mir war?«
»Nicht sofort.« Morpheus sah mich durchdringend an. »In einem seiner jüngsten Träume erblickte ich ein Mädchen, das deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Dich. Es war einer jener Träume, an die sich die Menschen nicht erinnern, weil sie nicht daraus aufwachen. Wann immer er von dir träumt, wird sein Schlaf tief und fest. Er weiß nicht, dass er von dir träumt, das konnte ich spüren, und noch weniger begreift er, warum du ihm auf zwölf langen Seiten von deinen Sehnsüchten und Gefühlen erzählt hast. Trotzdem gelingt es ihm nicht, den Brief zu vernichten. Das ließ mich misstrauisch werden und weckte in mir den Verdacht, dass Kräfte im Spiel waren, die über das Menschliche hinausgingen. Kräfte, die nur ein Mahr besitzt. Nun, was schon immer mein Verderben und mein größtes Gut war, ist die Neugierde. Ich habe geraubt, ihn weiterschlafen lassen und den Brief gelesen. Wie jedes ordentliche Mädchen hattest du deinen Absender auf das Kuvert geschrieben.«
»Nicht weil ich ordentlich bin, sondern weil ich wollte, dass er mich aufsucht oder anruft«, gestand ich zerknirscht.
»Du hattest Elisabeth Fürchtegott-Sturm geschrieben.«
»Hm«, machte ich verlegen. Ja, das hatte ich, in der
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