Dornenkuss
wolle ich in ihn hineinkriechen, verhakte meine Hände auf seinem Rücken und legte meine Beine um seine Hüften. Ich musste an die Nymphe denken, die Morpheus verwandelt hatte, als er im Teich gebadet hatte … beide waren eins geworden … männlich und weiblich …
Ich biss auffordernd in seinen kalten, starren Hals. Tu es! Plötzlich hob sich unter mir Louis’ Rücken an, ein leichtes Aufbäumen, dann trippelte er zur Seite und wieder zurück – nicht weil er sich fürchtete, sondern weil er das unwillkürliche Erbeben in Colins Brust fühlte. Ich fühlte es auch.
Noch einmal beschwor ich all meine Kraft und Zähigkeit, bis meine linke untere Rippe unter der Gewalt meiner eigenen Umarmung knackste und einen feinen, gezackten Riss bekam. Sofort schoss der Schmerz in meine Lunge, wo er sich von nun an bei jedem einzelnen Atemzug neu erheben würde. Das genügte. Es musste genügen. Ich wusste nicht mehr, wofür, aber meine Kraft war verbraucht. Mehr konnte ich nicht tun. Erschöpft ließ ich Colin los und rutschte vom Pferd.
Ohne ein Wort, ohne einen Blick wendete Colin Louis von mir ab und trabte die Straße hinauf und zurück in den Wald.
Ich hingegen lief schwankend hinunter zum Strand, der sich leer und verlassen vor mir ausbreitete, und legte mich in die kühlende Brandung, bis der Abend die Sonne hinter dem brennenden Berg versinken ließ, früher als sonst, viel früher.
Als die Welt ihre Farben vergaß, wälzte ich mich aus den Fluten und machte mich tropfnass, wie ich war, auf den Weg zu Angelos Haus. Die Tankstelle hatte bereits geschlossen; auch die Hauptverkehrsstraße zeigte sich mir ruhiger als sonst. Nur ab und zu fuhr ein Auto vorüber. Ich musste nicht einmal warten und schauen, um sie überqueren zu können. Das Zirpen der Grillen und Zikaden tönte sanfter und zerbrechlicher. Vielleicht hatte ich mich auch daran gewöhnt. Ohne zu zögern, lief ich weiter. Mit jedem Meter, der mich näher zu ihm brachte, wurden meine Schritte sicherer. Mein Rückgrat richtete sich von alleine auf, meinen Kopf trug ich stolz und anmutig auf meinen geschmeidigen Schultern. Ich musste das eiserne Tor nur antippen, damit es vor mir aufschwang.
Nicht dieses Lied, bitte nicht …, dachte ich noch flüchtig, als die ersten Klavierakkorde zu mir schwebten – lange, bevor ich ihn sehen konnte –, doch dann gab alles in mir nach. Es sollte so sein. In seiner Gegenwart würde das Stück sich anders anhören und nicht das ewige Gefühl der Unzulänglichkeit in mir nähren, wie es sonst immer geschehen war.
Ich hatte den Film zu diesem Soundtrack regelrecht gehasst. Die fabelhafte Welt der Amélie. Ich hasste den Titel, hasste ihren Namen, ihre Kulleraugen, ihr ewiges Lächeln – und dieser Hass rührte allein aus dem Wissen, dass ich niemals so sein würde wie sie, vom Schicksal gebeutelt und trotzdem stets einen liebevollen, selbstlosen Gedanken im Herzen. Sogar als das Schicksal mich noch nicht gebeutelt hatte, hatte ihre Fröhlichkeit mich überfordert. Sie war mir zu nett, zu niedlich, zu anständig, doch die Klaviermusik des Films hatte ich klammheimlich geliebt, schon beim ersten Hören. Und jetzt galt sie mir. Meinen Schritten, meinen Bewegungen, meiner störanfälligen Seele. Comptine D’un Autre Été. Sie führte mich zu ihm, ohne Hast und Eile.
Das Erdbeben hatte Spuren der Verwüstung im Garten hinterlassen, die ich bei meiner Flucht nicht bemerkt hatte, jetzt aber umso deutlicher wahrnahm und die mich mit ihrem morbiden Charme zum Lächeln brachten. Der Steinengel mit dem Löwen war entzweigebrochen, sie waren nun getrennt, der Löwe hatte seine starken Pfoten verloren, der Engel lag mit dem Gesicht auf dem vertrockneten braunen Gras. Blumentöpfe waren zerborsten, die Erde quoll wie Eingeweide aus ihren Spalten und Rissen, die Fliesen am Rande des Pools waren von feinen Sprüngen durchzogen. Eine dünne grüne Algenschicht schwappte auf dem Wasser. Scherben von zerbrochenen Windlichtern bohrten sich in meine nackten Sohlen, als ich zu ihm an den Flügel trat, der das Beben der Erde überlebt hatte und so rein und klar klang wie immer. Grauer Staub bedeckte die Sitzmöbel und die unzähligen Kissen, Staub bedeckte auch sein helles Haar. Der Abdruck seines Körpers auf der großen Ottomane und die kleine Schlafnarbe auf seiner linken Wange zeigten mir, dass er eben noch geruht hatte, inmitten des Chaos.
Die Bibliothek sah so aus, wie ich sie verlassen hatte, Berge von Büchern auf dem Boden. Die
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