Dornenkuss
erst gar nicht zurückschreiben, weil ich Deine Mail ziemlich strange fand. Fast ein bisschen unheimlich. Aber auf der anderen Seite hat es mich auch stolz gemacht, dass sich jemand um mich sorgt. (Um mich sorgt sich sonst fast nie einer.) Jetzt ist grad ein Seminar ausgefallen und ich sitze in der Cafeteria und … na ja. Wie das halt so ist.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass ich Dir doch antworten soll. Also, was ich Dir sagen will: Du musst Dir keine Sorgen machen. Mir geht’s gut. Ach, was heißt, es geht mir gut … Seit meinem Urlaub auf Santorin ist erst mal alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte. Meine Freundin hat nur noch rumgezickt und mich nach ein paar Tagen Streitereien verlassen, weil sie meinte, ich wäre anders geworden. Der Zauber wäre weg. Es würde nicht mehr funken. Aber wir sollten beste Freunde bleiben. (??)
Dann hab ich meinen Job als Barkeeper verloren, weil mein Boss sich beschwerte, es würden sich nicht mehr so viele Mädels zu mir setzen wie am Anfang und ich sei nicht bei der Sache, würde ständig rumträumen. Ich glaub, er wollte mich einfach loshaben, obwohl es stimmt, dass weniger Mädels kamen. Hab mich nach dem Rausschmiss stundenlang im Spiegel angeschaut und geguckt, ob was anders ist an mir, aber ich find nix, nicht mal einen Pickel. Ich seh aus wie immer.
Okay, dazu noch Ärger mit meinen Eltern, die mir plötzlich nicht mehr alles zahlen wollen fürs Studium … Wahrscheinlich so eine von diesen typischen Elternlektionen. Ich könne sie jedenfalls nicht mehr um den Finger wickeln wie früher, sagten sie. Nix mehr mit Schokoaugenerpressung.
Zu allem Überfluss hab ich mir beim Tennis auch noch mein Knie versaut. Meniskusschaden.
Aber, hey, ich fühl mich wohl damit. Klingt blöd, ich weiß. Aber ich hab in der Cafeteria ein Mädchen kennengelernt, vor ein paar Tagen erst. Sie ist nicht außergewöhnlich hübsch und hat auch keine so tolle Figur (sie trägt außerdem eine Brille, wie Du damals) (okay, das war jetzt nicht charmant, was?), aber sie sieht mich anders an als meine früheren Freundinnen. Direkter. Kommt mir vor, als ob sie bis auf meine Seele guckt. (Bäh. Kitsch.) (Ist aber so.)
Hab bei ihr nicht das Gefühl, dass ich ständig den tollen Typen raushängen muss, wenn wir zusammen sind. (Natürlich BIN ich toll, aber das muss man ja nicht ununterbrochen beweisen. : -) )
Das mit meinen Eltern krieg ich wieder hin, bestimmt. Und einen neuen Job finde ich auch.
Ich glaub fest daran, denn ich hab selten so gut geschlafen wie in den Tagen seit meinem Urlaub. Ist wohl die gesunde Schweizer Luft. In einer Nacht hab ich von Dir geträumt und deshalb … hab ich gedacht, ich schreib Dir.
Hey, ich merke gerade, dass das echt krass ist, einen Brief an jemanden ’
zu schreiben, den man gar nicht kennt. Weiß nicht mal mehr genau, wie Du ausgesehen hast. Nur noch, dass Du so einen kühlen, intensiven (und manchmal traurigen …) Blick hattest. Gefährlich irgendwie, wie das Mädel aus dem Hurts-Video, Wonderful Life. Die zwischen Sänger und Keyboarder. Die erinnert mich an Dich. Musst Du Dir mal ansehen. Nicht diese alte Schnulze von Black, sondern Wonderful Life von Hurts. Okay? Hurts! Cooler Song.
Ja, keine Ahnung. Verrückt, oder, das alles? Muss jetzt mal aufhören. Susi kommt gleich. (Das ist das Mädchen).
Mach’s gut, und wie gesagt: alles in Ordnung!
Grischa«
»Oh Grischa, du alter Macho.« Ich wischte mir eine kleine heiße Träne aus dem Augenwinkel – eine Träne der Ernüchterung, wie ich feststellen musste. Dieser Brief löste beileibe nicht das sofortige Bedürfnis aus, nach Hause zu stürzen und eine Antwort aufzusetzen. Er vermittelte mir eher das Gefühl, dass er dazu dienen sollte, mir das Maul zu stopfen.
Ja, Grischas Exfreundin hatte es schon korrekt formuliert, obwohl sie genau das, was ihr nun fehlte, unterschwellig in ihm gefürchtet hatte: Grischa war entzaubert. Die Magie war fort. Doch er schlief wieder tief und fest, er träumte (sogar von mir) und er hatte ein Mädchen gefunden, das erste, das ihn so kennenlernen durfte, wie er wirklich war, seitdem Angelo ihn vor so vielen Jahren geprägt hatte. Ich hatte ihn befreit.
Zugegeben, ich hatte mir andere Zeilen erhofft, irgendetwas Persönlicheres, Gefühlvolleres, Reiferes. Aber das hätte mein Leben nur komplizierter und nicht einfacher gemacht. Grischa würde seine besondere Bedeutung für mich behalten, doch dieser Brief halte mir nur die Bestätigung für
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