Dornenkuss
die Wirklichkeit schreibt. Deshalb fangen Schriftsteller damit an, Dinge zu erfinden. Deshalb gibt es Kitsch.«
»Haben wir denn gar keine Chance? Es muss eine Chance für uns geben. Ich liebe dich doch.«
»Ja, tust du das? Immer noch? Und ich soll der Hornochse von uns beiden sein? Mo cridhe, es ist alles wie vorher, unterbrochen von einem höchst unschönen Zwischenkapitel. Aber sonst hat sich nichts verändert. Ich bin alt und will sterben, du bist jung und willst leben.«
»Ich fühle mich aber gar nicht mehr jung.«
Ich ließ meinen Kopf gegen Colins Schulter sinken. Das, was ich nun zu realisieren begann, war mein persönlicher Albtraum. Seit meiner Jugend verfolgte er mich. Jetzt kannte ich ihn und seinen gesamten Schrecken. Es war mein verlorener Sommer. Colin reagierte auf mich wie eh und je, er nahm mich zu sich, bis ich das Rauschen in ihm hörte, erregt und hungrig, vielleicht liebte auch er mich noch, aber unsere Zukunft würde aus kurzfristig arrangierten Treffen bestehen, immer gehetzt von seinem Hunger und überschattet von der Gewissheit, dass ich altern würde und er jung blieb. Es würde so werden, wie er es in den ersten Tagen unserer Italienirrfahrt prophezeit hatte: Ich würde meiner selbst unsicher werden, unsere wenigen Freunde würden sich abgrenzen, ich würde beginnen, ihm Vorwürfe zu machen, wir würden uns streiten, uns vielleicht sogar hassen …
In wenigen Tagen würden Gianna und Paul heimfahren. Mama reiste morgen schon ab. Tillmann würde nur noch so lange ausharren, bis er gegen seine Sucht gewonnen hatte. Ich konnte nicht alleine in der Piano dell’Erba bleiben. Was sollte ich hier? Irgendwann würde es auch in Kalabrien Winter werden. Und doch wollte ich die verbleibenden Sommertage auskosten – selbst wenn sie nur darin bestanden, am Wasser zu sitzen und an die wenigen schönen Momente zu denken, die Colin und ich an diesem Ort geteilt hatten.
»Tu mir nur einen Gefallen, Lassie. Im vergangenen Sommer hast du mich darum gebeten. Jetzt bitte ich dich darum.«
»Ja?« Ich schmiegte meine Lippen an seinen kalten Hals.
»Geh nicht, ohne dich von mir zu verabschieden. Denn das würde ich nicht verkraften.«
GLAUBE, HOFFNUNG, LIEBE
Noch einmal stand ich auf und blickte hinter mich, um mich davon zu überzeugen, dass ich allein am Strand war. Die sinkende Sonne schien warm auf meinen Nacken und meine Haare, die nass vom Baden an meinem Hals klebten. Meinen Bikini hatte sie bereits getrocknet. In mir machte sich jene angenehme Entspannung breit, die ich am Schwimmen schon immer geliebt hatte. Das Beste kam, wenn man aus dem Wasser gestiegen war. Wohlige Müdigkeit.
Mit der rechten Hand griff ich in meine Strandtasche, um die beiden Briefe herauszuziehen. Der eine machte mir Mut, den anderen zu lesen, obwohl beide nichts miteinander zu tun hatten. Papas Brief lag schon beinahe vierzehn Tage ungeöffnet in meiner Nachttischschublade. Doch der zweite, mustergültig adressiert und mit abgestempelter Briefmarke, war heute Morgen erst eingetrudelt, unauffällig versteckt in einem großen Kuvert mit Post, das Herr Schütz uns per Express nach Kalabrien geschickt hatte. Mama hatte ihn darum gebeten, sich um das Haus zu kümmern und den Briefkasten zu leeren, nachdem beide so überstürzt abgereist waren. Auch Rufus brauchte dringend Zuwendung. Auf unsere senilen Nachbarn wollte Mama sich nicht länger verlassen und Gianna schon gar nicht.
Irgendwie hatte sich in mir diese Idee festgesetzt, dass ich Papas Brief ertragen könnte, wenn ich den anderen Brief gelesen hatte. Zum wiederholten Mal hielt ich ihn vor meine Augen, um den Absender zu studieren. Nein, ich hatte nicht geträumt, obwohl ich diese Situation in meinen Träumen schon oft erlebt hatte und enttäuscht erwacht war, weil ich nicht mehr dazu gekommen war, seine Zeilen zu entziffern, oder sich vor meinen Augen Schlieren bildeten und die Buchstaben verschwammen. Absender: Grischa Schönfeld. Fribourg, Schweiz. Wieder musste ich lächeln, weil ich im Gespräch mit Tillmann exakt darauf getippt hatte. Dass er in der Schweiz lebte. Es passte zu ihm.
Mein Herz machte einen waghalsigen Sprung, als ich mit dem Daumen das Kuvert öffnete und den einfachen karierten Briefbogen entfaltete, ein herausgerissenes Blatt aus einem Collegeblock. Sofort saugten sich meine Augen an der krakeligen, unsauberen Jungsschrift fest.
»Hey, Elisabeth,
ich hab grad keinen Schimmer, wie ich diesen Brief beginnen soll. Eigentlich wollte ich
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