Dornenkuss
das gegeben, was ich auf Santorin bereits gespürt hatte. Wir würden einander nie nahekommen. Ich wusste um unser Geheimnis und ich würde damit allein bleiben. Es ergab keinen Sinn, ihm davon zu erzählen.
War ich denn nun in der Lage, auch Papas Brief zu öffnen? Irgendwann würde ich es tun müssen und es konnte sich nur noch um Tage handeln, bis Gianna und Paul Druck machten und mich zur Heimreise überredeten. Dass sie schon lange zurück nach Deutschland fahren wollten, sah ich ihnen nicht nur an; ich wusste es. Es wurde langweilig, hier zu sein. Und ich zögerte etwas hinaus, was ich doch nicht ändern konnte. Mein Geld war fast aufgebraucht; selbst wenn ich allein hierblieb, würde ich mich nicht länger als zwei, drei Wochen über Wasser halten können.
Ich drückte meine Füße in den warmen Sand und wartete, bis mein Herz etwas ruhiger schlug. Dann öffnete ich auch Papas Kuvert. Seinen Brief zu lesen, konnte nicht schmerzhafter sein, als erkennen zu müssen, dass Angelo sein Mörder gewesen war. Und ich musste es endlich tun, sonst würde ich es nie wagen.
Ich stutzte, als ich bemerkte, dass zwei Bogen in dem Umschlag steckten, ein eng beschriebener, vermutlich der eigentliche Brief, und eine schwarz-weiße Kopie der verfluchten Europakarte. Ihr widmete ich mich als Erstes, denn sie erschien mir harmloser und auch auf ihr prangten handschriftliche Zeilen. Tatsächlich, auf dieser Karte fehlte das dicke Kreuz in Süditalien.
Ich trug Tillmann seinen Versuch, mich zu beeinflussen, jedoch nicht nach. Wir wären so oder so nach Italien gefahren. Das wusste ich so sicher wie das Amen in der Kirche. Er hatte mich nur nicht gut genug dafür gekannt. Ich war zäher, als er dachte. Und wenn ich mich nicht dafür entschieden hätte, hätte Angelo mir vermutlich solch nagende Italien-Fernweh-Träume eingepflanzt, dass ich es doch irgendwann getan hätte und ihm in die Arme gelaufen wäre. Vielleicht hatte er das sogar getan. Er hatte mich in seinem Revier erlegen wollen.
Aber warum hatte Papa mir eine Kopie der Karte in den Brief gelegt? Ich drehte sie um, um zu lesen, was er mir schrieb.
»Und noch ein Postskriptum: Mich plagt die Befürchtung, dass Du das Original zerrissen oder verbrannt hast, nachdem Du einige der Orte auf der Europakarte angefahren und dort nicht den klitzekleinsten Mahr gefunden hast. Ach, Elisa, natürlich zeigen die Kreuze keine Mahrresidenzen (das hoffe ich zumindest!). Was wäre ich für ein Vater, wenn ich Dich ins Verderben schicken würde? Es sind ohnehin viel, viel weniger, als Du denken magst, und fast keiner von ihnen hat feste Aufenthaltsorte. Nein, die Kreuze markieren Gegenden, die einen besonderen Zauber innehaben und von denen ich hoffe, dass Du sie einen nach dem anderen aufsuchst und angesichts ihrer Schönheit begreifen wirst, was wirklich wichtig im Leben ist. Ich selbst habe es zu spät begriffen. Du und Dein Bruder werdet an diesen Orten das Licht finden, das ich Euch stets verwehrt habe.
Denkt an mich, wenn Ihr Euch in ihm sonnt. «
»Okay, du manipulativer Sturkopf, dann ist dieses Rätsel wenigstens auch gelöst«, wisperte ich und wunderte mich, dass ich dabei lächeln musste. Denn gestern noch hatte ich die Karte erneut zur Hand genommen und mich nicht schlecht über die anderen Markierungen gewundert, denen ich vorher nie große Bedeutung beigemessen oder sie mir gar gemerkt hatte, so sehr war ich auf Italien fixiert gewesen. Aber es war eine nette Ansammlung attraktiver Urlaubsziele für Individualreisende: die britischen Kanalinseln, Mont-Saint-Michel in der Normandie, La Gomera, Korsika, Bornholm – Inseln eben. Ausschließlich Inseln. Weil Papa wusste, dass Tessa das Wasser mied? Oder weil er selbst Inseln seit jeher liebte? Nur ein Kreuz passte nicht in die Reihe und war so winzig, dass ich es beinahe übersehen hätte. Es prangte inmitten der schottischen Highlands. Colins Heimat. Es musste Papa große Überwindung gekostet haben, sie zu markieren, aber mehr hätte er nicht tun können, um mir zu zeigen, dass er meine Liebe zu Colin endlich akzeptiert hatte.
Auch leuchtete mir inzwischen ein, dass es nur eine Europa- und keine Weltkarte war. Papa selbst war in der Karibik befallen worden. Er wollte nicht, dass ich mich auf seine Spuren begab; wenigstens hatte er es zu verhindern versucht.
Doch ab jetzt musste und wollte ich alles selbst entscheiden. Und wenn es bedeutete, den Brief zu lesen, vor dem ich mich so lange versteckt
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