Dornenkuss
hatte.
»Liebe Elisa,
Du weißt, dass ich in meinem erwachsenen Leben nur drei Mal frei willig in der Kirche war: als ich Deine Mutter geheiratet habe, bei der Taufe von Paul und natürlich bei Deiner Taufe (Mia bestand darauf). Meine Frömmigkeit lässt also zu wünschen übrig.
Deshalb mag es Dich verwundern, dass ich Dir ausgerechnet Worte aus der Bibel aufschreibe. Doch sie sind frei von jeglichem Dogma und existieren unabhängig von religiösen Glaubensbekenntnissen und ich glaube, dass sie Dir Kraft geben können, in Deinem Leben das zu tun, was für Dich richtig ist.
Menschen, die so viel fühlen wie Du und ich, sind leicht in die Irre zu führen und leicht zu blenden, sobald sie versuchen, sich gegen ihre Emotionen zu wehren. Und sie haben manchmal Angst, sich zu entscheiden, weil sie um die Macht ihrer Empfindungen wissen.
Wann immer Du Zweifel hast oder glaubst, einen Rat zu brauchen, dann lies Dir diese Zeilen durch.
Ansonsten habe ich Dir nicht viel zu sagen – wir waren uns immer so nah, dass ich nichts erklären muss. Ich weiß, dass Du verstehst, was mich angetrieben und bewegt hat.
Du warst mein Augenlicht und wirst es immer bleiben. «
»Oh Gott, Papa«, seufzte ich kopfschüttelnd, nachdem ich mir erneut Tränen von den Wangen gewischt hatte. »Ein Bibelzitat? Muss ich das wirklich lesen?«
Ich drehte das Blatt um, um es zu überfliegen, doch schon die ersten Worte trafen mich mitten ins Herz.
»Das Hohelied der Liebe
Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich dröhnendes Erz und eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse wüsste
und alle Erkenntnis hätte;
wenn ich alle Glaubenskraft besäße
und Berge damit versetzen könnte,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich nichts.
Die Liebe ist langmütig,
die Liebe ist gütig.
Sie ereifert sich nicht,
sie prahlt nicht,
sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig,
sucht nicht ihren Vorteil,
lässt sich nicht zum Zorn reizen,
trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht über das Unrecht,
sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles,
hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf.
Jetzt schauen wir in einen Spiegel
und sehen nur rätselhafte Umrisse,
dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich unvollkommen,
dann aber werde ich durch und durch erkennen,
so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.
Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
(Ich habe ein wenig gekürzt, ich hoffe, die Propheten werden es mir nachsehen. Leb wohl, mein kleines Mädchen … das so groß ist, dass es über sich hinauswachsen wird.)«
Ich las den Brief ein zweites Mal, ein drittes Mal, dann nur noch die Bibelzitate, bis die untergehende Sonne das Papier feurig aufleuchten ließ und der Wind meinen Nacken mit einer Gänsehaut überzog.
»Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht«, murmelte ich vor mich hin, als ich meine wenigen Habseligkeiten in meine Tasche packte und mich auf den Weg zu unserem Haus machte. Was bedeutete das? Warum hatte Papa mir ausgerechnet diese Zeilen geschickt? Ich dachte an die Anfangspassage mit dem prophetischen Reden und der Erkenntnis – sie waren ein dröhnendes Erz und eine lärmende Pauke, wenn die Liebe fehlte. Angelo hatte die Liebe gefehlt. Er war nur ein dröhnendes Erz gewesen und ich hatte geglaubt, in ihm die Weisheit aller Dinge zu finden. Mich selbst zu finden.
Ob Papa geahnt hatte, dass mir das passieren würde? Oder passierte so etwas jedem Menschen irgendwann im Laufe seines Lebens? Dass er sich an jemand versah?
Noch immer grübelnd schlurfte ich durch das Törchen und über die kleine Treppe hoch auf die Terrasse, wo ich mich in einen der Plastikstühle fallen ließ und erst aufsah, als ich merkte, dass ich nicht allein war. Paul und Gianna saßen mir gegenüber und schauten mich an, als hätten sie ein Kilo Brausepulver verschluckt und mit einem großen Glas Wodka abgelöscht. Leicht durchgedreht, aber redselig. Trotzdem waren ihre Münder wie zugenäht. Giannas Augen glänzten entzündet. Hatte sie geweint? Warum lächelte sie dann so glückstrunken?
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und legte meinen Kopf schräg, um Pauls Gesichtsausdruck zu
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