Dornenkuss
analysieren. Stolz. Stolz wie Oskar. Aber auch … ängstlich. Ja, er hatte Angst. Gianna hatte erst recht Angst. Angst, die einen zum Grinsen brachte?
»Püh«, machte Gianna und brach in ein kurzes, pubertäres Lachen aus. »In Ordnung, na ja, ich weiß nicht … Was meinst du, Paul?«
»Hömm«, antwortete Paul mit bierseligem Blick. Hömm? Was, bitte, bedeutete »Hömm«?
»Los, sagen wir es ihr«, drängelte Gianna. »Ich muss es ihr sagen! Nein, sag du es. Ich kann nicht.«
»Was denn jetzt?« Die beiden begannen mich nervös zu machen.
»Du …« Paul räusperte sich feierlich und strahlte bis über beide Ohren. »Du wirst Tante. Herzlichen Glückwunsch.«
Tante? Ich Tante? Das bedeutete, dass …
»Nee«, sagte ich ungläubig.
»Doch.« Giannas Augen wurden feucht. »Ich bin schon im dritten Monat. Mindestens. Deshalb war mir so schlecht und ich nehme auch an, dass ich dadurch so … na, Stimmungsschwankungen eben.«
Oh ja, die hatte sie gehabt, und zwar nicht zu knapp.
»Tante Ellie … Das klingt altmodisch. Nach einer Frau in grauem Kostüm und Wollstrumpfhosen«, beschwerte ich mich, immer noch zu überrumpelt, um einen klaren Gedanken zu bilden. Gianna war – schwanger? Sie bekam ein Kind? »Hattest du nicht die Pille genommen?«
»Ja, schon. Aber als ich zu euch kam, wegen meines Burn-outs, war mir ja so übel gewesen, schon die Tage vorher, und da hat sie wohl nicht so gewirkt, wie sie sollte. Ich denke mal, dass es da schon passiert ist. Außerdem hat dein Bruder offenbar ziemlich scharfe Munition.«
»Oh, verdammt, Gianna …« Jetzt erst wurde mir die Tragweite dieser Nachricht klar. Ich hatte Gianna in den vergangenen Wochen ständig in Aufregung versetzt, sie war dabei gewesen, als wir Tessa getötet hatten, sie hatte mit uns in Quarantäne gelegen, danach meine verfluchte Angelo-Trance miterlebt und ihre vergeblichen Versuche, mich zurückzuholen – und sie hatte die ganze Zeit ein Baby in ihrem Bauch gehabt! Sie hätte es verlieren können … Schon allein deshalb, weil Mahre in der Nähe gewesen waren. Colin. Tessa. Angelo. Und – und ich? Hatte ich sie ebenfalls gefährdet?
»Weißt du noch, dass du mir abgeraten hast, ihr Valium zu geben?«, fragte mich Paul. »Das war Gold wert. Ich sag ja, du hast einen guten Instinkt, Schwesterchen.«
Oh Gott, und anschließend hatte sie sich in die kochend heiße Badewanne gesetzt! Ich erinnerte mich überdeutlich daran, wie sehr mir das unter die Haut gegangen war und ich sie dazu gezwungen hatte rauszukommen, weil ich überzeugt davon gewesen war, dass es ihr schadete.
»Colin hatte auch einen guten Instinkt«, ergänzte Gianna stolz, als habe sie persönlich ihn dazu erzogen. »Er hat mir gesagt, ich solle nicht in seine Nähe kommen, wenn ich es nicht möchte, und ich wollte ja immer von ihm weg … Wahrscheinlich deshalb.« Sie legte beschützend die Hand auf ihren Bauch. »Ist nicht böse gemeint, Ellie, aber Stress ist nicht gut für Schwangere.«
»Nein, ich bin nicht böse, du hast vollkommen recht! Du musst nach Hause fahren, Gianna. Und zwar bald.«
»Das wollen wir auch.« Sie sah mich entschuldigend an. »Du kannst mit Tillmann und Colin hierbleiben, wenn du magst. Ich möchte so schnell wie möglich zu einem guten Arzt und prüfen lassen, ob alles … ob alles okay ist. Mit dem Baby. Wir fahren heute Abend noch.«
»Natürlich. Verstehe ich. Dann – dann packt mal eure Sachen, ja?«
Meine Stimme wackelte bereits. Ich schaffte es gerade noch, in mein Zimmer zu stürzen und die Fensterläden zuzuschlagen, bevor ich zitternd auf den Boden sank. Gianna hätte jeden Tag ihr Baby verlieren können … Sie war mir sogar in den brennenden Wald gefolgt, zusammen mit den anderen. Es war ein Wunder, dass ihr nichts geschehen war. Das musste ein außerordentlich zäher und lebenswilliger Fötus sein, der es sich in ihrem Bauch gemütlich gemacht hatte. Wenn er denn gesund war … Gesund und normal.
Hatte etwas von Colin auf ihn übergehen können? Oder von Tessa? Von Angelo? Wusste Gianna um diese Gefahren? Aber was sollten das für Gefahren sein – das Kind war von Paul! Trotzdem, Tessa hatte Colin auch im Mutterleib geprägt. War sie Gianna nahe gekommen? Hatte sie etwas mit ihr angestellt?
»Nein«, sagte ich zu mir selbst. »Nein. Gianna ist nicht wie Colins Mutter, sie ist stark und fern von allem Aberglauben. Tessa hat ihr nichts antun können. Das wird ein wundervolles, gesundes Baby.«
Meine Schlussfolgerung dämpfte
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