Dornenkuss
Lügen. Was hatte überhaupt gestimmt von dem, was Angelo mir aufgebunden hatte? War denn irgendetwas davon wahr gewesen? Aber ich spürte auch, wie das, was Colin gesagt hatte, ein Stück der Last von meinen Schultern nahm. Ich hatte mich nicht nach Angelo gesehnt, sondern nach dem, was er anderen genommen hatte … Gerade erst heute Morgen, als Gianna und ich am Obstwagen standen, hatte die Sehnsucht mich erneut ohne Vorwarnung überwältigt. Auslöser war der Sohn des Händlers, der mit einem frechen Grinsen mit Gianna flirtete und damit prahlte, wie geschickt er Orangen jonglieren konnte. Obwohl er dicklich und klein war und kindliche Pausbacken hatte, in denen seine Augen fast verschwanden, hatte er mich sofort an Angelo erinnert und ich wäre am liebsten fortgerannt. Gut möglich, dass Angelo auch ihn einst beraubt hatte. Angelo war ein Sammelbecken jugendlicher Gefühle, er bündelte all das in sich, was für mich in so weite Ferne gerückt war. Ohne Eile stapfte ich durch den Sand zu Colin zurück. Auf einmal hatte ich keine Angst mehr, er könne mir davonlaufen. Louis hatte sich erhoben, von ihm abgewandt und rupfte verdrossen an den vertrockneten Büschen herum.
»Angelo hat nicht nur die Jugend anderer geraubt, Colin«, sagte ich mit fester Stimme. »Er hat vor allem meine Jugend geraubt. Ich bin heute neunzehn geworden, da draußen wartet der Ernst des Lebens auf mich und ich habe meinen letzten freien Sommer verschwendet. Er ist an mir vorübergezogen … Ich werde nie wieder jung sein, nie so sein können, wie ich es eigentlich hätte werden sollen. Ich möchte zurück und alles besser machen, es leichter nehmen. Ich selbst sein, ohne mich zu verstellen, wie ich es früher immer getan habe.«
»Und ich möchte die Zwanzig hinter mir lassen. Das ist der Unterschied zwischen uns und er wird immer bleiben. Ich möchte graue Haare bekommen und Falten und meine Knochen knacken hören. Ich möchte dich anfassen können, wenn ich mit dir schlafe. Meinetwegen auch mal keinen hochkriegen. Ich möchte alt werden. Ruhen können. Und sterben.«
»Du willst es also immer noch.« Der bittere Zug um meinen Mund, den ich bei seinen endgültigen Worten wieder spürte, würde mich von nun an begleiten. Dieser Sommer hatte mich gezeichnet.
»Ja. Aber ich werde dich nicht mehr darum bitten. Das verspreche ich dir.« Colin nahm meine rechte Hand und küsste ihre Innenfläche, eine zärtliche, aber auch höflich-distanzierte Besiegelung, doch ich fühlte keinerlei Erleichterung.
»Gibt es wirklich gar keine guten Seiten der Unsterblichkeit?« In Angelos Schilderungen war sie mir stets wie ein Hauptgewinn präsentiert worden.
»Oh doch, die gibt es. Ich kenne Pferdeäpfel in sämtlichen Aggregatzuständen. Das ersetzt jedes Physikstudium«, erwiderte Colin sarkastisch. Ich ging auf seine Frotzelei nicht ein.
»Es war schön, sich darauf freuen zu können, keine Angst mehr haben zu müssen. Es war so beruhigend.« Noch jetzt fühlte ich diese warme, weiche Gelassenheit, die meine Vorfreude begleitet hatte. »Nie mehr Angst, weder vor Krankheit noch vor Tod.«
»Aber genau das ist es doch, was dich zum Menschen macht. Du hast etwas zu verlieren. Wenn man gar nichts zu verlieren hat und alles ewig dauern kann, ist jedes Gefühl überflüssig.«
»Also sind Menschen die besseren Wesen?«, fragte ich mit einem scharfen Blick auf Colins schwarzes Lederarmband. »Vergiss nicht, was sie dir angetan haben.«
»Das werde ich niemals und ja, es waren Menschen. Aber ich finde, es ist ein Trost, sich sagen zu können, dass selbst der schlechteste, niederträchtigste Mensch irgendwann stirbt, während unsereins mit jedem weiteren Jahr den Radius seiner Raffgier erweitern kann«, entgegnete Colin. »Der Tod ist das, was die Menschen von uns trennt. Er ist eine Gnade.«
»Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll …« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Was für ein Leben soll ich führen? Wie soll es aussehen? Welchen Sinn soll es haben? Ich kann doch nicht nach Hause fahren und so tun, als wäre alles in Ordnung … studieren und heiraten und Kinder kriegen …«
»Das ist das, womit du dich nun abfinden musst. Mit deinem Leben. Und ich muss mich mit meiner Unsterblichkeit abfinden. Wie ich es schon einmal sagte, Lassie …« Colin zeichnete versonnen meine Augenbrauen nach, dann wanderten seine Finger über meine Wangenknochen. »Das schöne Ende für einen Liebesroman hatten wir schon. Dieses hier ist das Ende, welches
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