Dornenkuss
Wirbelsäule zerschmettert und sie hat nur gegrunzt und dann sind all die Knochen und Knorpel wieder von alleine zusammengewachsen, innerhalb von Sekunden!« Mir wurde übel, als ich an das Geräusch dachte, das sie dabei von sich gegeben hatten. »Sie hat ihn ausgelacht, ihn gelockt, obwohl er sich mit den Gedärmen und dem Blut des getöteten Keilers eingerieben hatte, trotzdem wollte sie ihn haben und sich nehmen …«
Oh nein. Es war wie an dem Abend, als ich versucht hatte, Paul von diesem Kampf zu erzählen. Ich konnte es nicht. Es klang wie erfunden. Es konnte den Horror nicht widerspiegeln, den ich erlebt hatte. Doch so schnell durfte ich nicht aufgeben. »Außerdem … erinnerst du dich gar nicht mehr daran, wie sie aussieht? Tillmann, du hast doch Sinn für Ästhetik, oder? Man kann sie nicht ernsthaft schön finden!«
»Klar kann man das. Ich tue es. Sie ist schön, das hab ich dir schon mal gesagt. Die schönste Frau, die mir je begegnet ist, wenn du es genau wissen willst.«
»Nein. Nein!«, rief ich aufgebracht, obwohl ich befürchtet hatte, dass Tillmann sie immer noch für schön hielt. »Das ist sie nicht. Sie hat dumme, hohle Augen, schmuddeliges Haar, ein einfältiges Puppengesicht und einen klebrigen Mund. Sie stinkt!«
»Ich habe das nicht so wahrgenommen. Vielleicht hast du sie auch nur so gesehen, weil du sie hasst. Ich habe eine schöne Frau gesehen, mit langem rotem Haar und weichen grünen Augen. So weiche Augen … Wenn ich hineinblickte, hatte ich das Gefühl, nie wieder einen Fehler machen zu können und jedes Problem zu bewältigen, egal, wie groß es ist. Dass sie mir alles verzeiht.« Tillmanns Blick wirkte plötzlich weggetreten. Ich stieß einen Ast ins Feuer, um ihn aufzurütteln.
»Du redest hier von Tessa. Von Tessa! Begreifst du das nicht?«
»Doch. Ich will meine Gefühle ja selbst nicht glauben. Mir wäre es lieber, sie wäre hässlich gewesen. Aber ich habe sie so gesehen, wie ich es dir eben beschrieben habe. Und womöglich würde es wieder so sein.«
»Scheiße«, murmelte ich. »Das darfst du nicht, Tillmann, bitte nicht …«
»Es könnte einfacher sein, als Colin noch einmal dazu zu bringen, sie zu lieben. Falls das überhaupt geht. Er sagt ja, er habe sie nur begehrt, nicht geliebt.«
Tillmanns Argumente pferchten mich ein. Sie waren zu gut, um sie von der Hand zu weisen. Um mir Raum zu verschaffen, lief ich wie Rumpelstilzchen um das Feuer herum; ich konnte angesichts seiner Überlegungen nicht mehr ruhig stehen bleiben. Er selbst konnte das sehr wohl. Auch das beengte mich.
»Aber sie wird versuchen, dich auszusaugen!«, rief ich. Die ersten Regentropfen trafen meine Wangen und meine nackten Unterarme; kleine kühlende Punkte auf meiner Haut. »Und sobald sie das getan hat, wirst du gar nicht mehr daran denken können, sie zu töten, du wirst ihr Gefährte sein wollen und dafür sorgen, dass sie sich auch Colin wieder nehmen kann … Du wirst zu unserem Feind!«
Tillmann reagierte nicht. Aber er stritt meine Schlussfolgerungen auch nicht ab. Ich lehnte meinen Kopf an einen Baumstamm, als könne er mir die Lösung für all unsere Schwierigkeiten verraten. Er roch würzig nach Harz und uraltem Holz. Irgendwie magisch. Meine Finger strichen über einen schwammigen Pilz, der an der Rinde haftete.
»Wenn wir nur Träume erschaffen könnten – oder sie selbst rauben und uns einflößen …«, redete ich halblaut grübelnd vor mich hin. »Dann wäre alles einfacher. Dann könnten wir sie täuschen. Aber wie soll das gehen? Das geht nicht, es gibt nur echte Träume, keine falschen.«
Genau darüber hatte ich vergangene Nacht stundenlang nachgedacht, nachdem mein wiederkehrender Albtraum von meinem verlorenen Sommer mich geweckt hatte. Wie so oft in den vergangenen Wochen hatte ich geträumt, dass ich aufwachte und mit Schrecken feststellte, den Sommer verpasst zu haben. Es war bereits Herbst. Und ich wusste, dass ich einen weiteren Winter nicht überstehen würde. Ein solcher Traum würde einen Mahr auf der Stelle vergiften. Aber wie sollte ich ihn dazu bringen, ihn sich zu nehmen? Das ging nicht. Genauso wenig konnte ich schöne Träume erfinden und mir nehmen lassen, ohne dass es uns schaden würde. Auch Tagträume waren Träume, geboren aus meinen Gefühlen und Wünschen. All meine Träume rührten aus mir selbst und ich wusste zu gut, welchen Verlust es bedeutete, wenn sie einem genommen wurden. Noch einmal würde ich einen solchen Raub nicht
Weitere Kostenlose Bücher