Dornenkuss
die Frage, ob wir nicht besser die Koffer packten und abhauten, solange wir noch die Chance dazu hatten. Derlei Diskussionen wollte ich nicht führen, weder mit Paul noch mit Gianna. Deshalb versuchte ich mich abzuschotten und nur oberflächliche Gespräche zuzulassen – und das wiederum verschärfte mein Gefühl der inneren Abgeschiedenheit. Doch nun mussten wir uns ernsthaft austauschen. Nicht über François, nicht über Colin, auch nicht über mich. Sondern über Tessa.
Ich drehte mich wieder zu Gianna um, die mit kritischem Blick den Obstsalat inspizierte.
»Wir müssen endlich darüber reden, oder?«
Sie nickte langsam. »Aber mit Tillmann. Nicht ohne ihn. Er wollte hierher, also muss er dabei sein. Kümmerst du dich darum?«
»Ich versuche es.« Leicht würde es nicht werden, meistens wies Tillmann mich schon auf der Treppe zurück, wenn ich nach ihm sehen wollte. Er verteidigte sein kleines Reich heftiger als Gianna ihre Küche. Auch dieses Mal passte er mich auf dem oberen Treppenabsatz ab, bevor ich den Dachboden betreten konnte.
»Was gibt’s?«
Argwöhnisch musterte ich ihn. Seine Augen wirkten glasig und seine Wangen waren gerötet. Hatte er gerade geschlafen? Oder … oje, ich hatte ihn wohl wirklich beim Liebesspiel mit sich selbst erwischt. Denn sein glasiger Blick bekam gerade Gesellschaft von einem debilen, befriedigten Grinsen.
»Wir wollen heute Abend über Tessa und unseren Plan sprechen. Wir müssen eine Lösung finden. Mit dir, nicht ohne dich. Wirst du dabei sein?«
»Ja, passt mir gut. Ciao.«
Schon war er wieder weg und schlug mir die Tür vor der Nase zu. »Passt mir gut.« Was war denn das für eine Antwort – und wieso war es so einfach gewesen? Hatte er doch nicht vergessen, warum wir hier waren?
Während ich die steilen Stufen hinunterlief, um den Tisch zu decken, musste ich mir eingestehen, dass ich selbst dazu neigte zu verdrängen, warum wir hier waren. Denn sobald ich mir unser Vorhaben bewusst machte, fürchtete ich, in der nächsten Sekunde verrückt zu werden oder vor Anspannung zu platzen.
Doch dieses Land war gnädig. Es machte einem das Verdrängen leicht. Dank Giannas unermüdlichem Aufklärungsunterricht hatte ich inzwischen einiges über Italien gelernt. Ich wusste, dass man sich ab zwei Uhr mittags Guten Abend sagte, obwohl die Sonne dann erst richtig in Fahrt kam. Ich wusste, dass man sich nach dem Mittagsmahl für mehrere Stunden zurückzog und in einen lethargischen Dämmerzustand verfiel, und diese Siesta nahmen die Italiener sehr, sehr ernst. Ich wusste, dass es ihnen ein Bedürfnis war, abends im corso durch die Straßen zu ziehen und sich einander wie siegreiche Helden zu präsentieren, nachdem sie sich tagsüber beim Baden nicht über die Brandung hinausgewagt hatten. Denn Süditaliener schwammen nicht. Sie dümpelten. Es könnte ja eine medusa kommen, eine der giftigen Quallen, die sich manchmal versehentlich dem Strand näherten. Wenn dies geschah, kreischte irgendjemand panisch »Una medusa, una medusa!« und binnen Sekunden war das Meer wie leer gefegt. Italiener waren am Strand, um sich zu bräunen, nicht um zu baden oder gar zu schwimmen. Als ich das erste Mal weit hinausgekrault war, musste Gianna Andrea davon abhalten, mit seinem kleinen Motorboot hinterherzufahren, weil er glaubte, ich sei in Seenot geraten. Und wie gesagt – Italiener liebten Lautsprecher. Nicht nur der Obsthändler sorgte für ohrenbetäubenden Lärm, indem er einen werbegeplagten Radiosender durch seine miesen Boxen quälte und gleichzeitig ins Megafon brüllte. Auch der Brotwagenmann und der Alteisenhändler schrien sich die Seele aus dem Leib, sobald sie die Kurve zu unserer Siedlung nahmen. Am Strand wurde es nur zwei Mal am Tag laut. Dann nahm das Discoboot seinen Kurs von Mandatoriccio nach Calopezzati und pries uns zu dröhnenden Bässen die Vergnügungsetablissements der nächsten größeren Städtchen an. Außerdem liebten die bambini der Italiener Spielzeug mit Lautsprechern. Es gab nicht viele Menschen hier in der Straße, aber sie verstanden es vortrefflich, sich bemerkbar zu machen.
Glücklicherweise wusste ich nun auch, dass die meisten Anwohner wohlhabende Geschäftsleute, Ärzte oder Anwälte waren, die sich nur am Wochenende in der Piano dell’Erba aufhielten. Unter der Woche wurde es ruhig, denn der klassische italienische Ferienmonat war der August und der Kalender zeigte erst Mitte Juni.
Ich nahm dieses Bündel an neuen Eindrücken wahr wie einen
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