Dornenkuss
wenn Colin es nicht gelingt, sie zu erledigen, und sie uns anfällt, kann es ein Massaker geben. Tillmann ist der Einzige, der sie liebt.«
Wieder überflutete uns das Gefühl, schweigen zu müssen. Der Einzige, der sie liebt. Tillmann hatte Paul nicht widersprochen. Es war also, wie er mir gegenüber behauptet hatte: Er liebte sie.
»Damit wäre aber nur das Wer geklärt«, setzte ich der lastenden Stille ein Ende. »Nicht das Wie.«
»Schmerz öffnet die Seele …«, sinnierte Gianna und spielte mit ihren Fingernägeln auf dem Tisch Klavier, ein aufreibendes Geräusch. Ich griff nach vorne und drückte ihre Hände flach hinunter, damit sie es bleiben ließ. Ich konnte dabei nicht denken.
»Viel wichtiger ist doch, sich zu überlegen, wie wir Tillmann davor bewahren, sich verwandeln zu lassen!«, lenkte ich ab, denn mit dem von Gianna zitierten Teil der Formel war ich von Beginn an überfordert gewesen.
»Das habe ich schon«, entgegnete Tillmann gefasst. »Und ich habe bereits eine Idee. Ich kann nur noch nicht darüber sprechen.«
»Tillmann, es geht hier um Leben und Tod, wir können uns keine Geheimniskrämerei leisten!« Paul beugte sich vor und sah Tillmann mahnend an. »Wenn wir uns diesem Wahnsinn schon stellen, muss jeder von uns wissen, was der andere tut.«
»In Hamburg wussten wir es auch nicht. Und? Du lebst«, erwiderte Tillmann kühl. Ich seufzte tief. Verdammt, er hatte recht. Wir hatten beide nicht gewusst, was Colin im Schilde geführt hatte. Aber Colin war ein Mahr. Tillmann hingegen war ein Mensch und ein sehr junger dazu. Vor einigen Monaten hatte er noch an Steinen befestigte Tarotkarten durch unsere Fenster geworfen, um mir seine Vision mitzuteilen, und nachts im Grenzbachtal Colin aufgelauert und geglaubt, sein Traumraub an den Rindern wäre ein kühnes Rodeo.
»Kann ich offen sprechen?« Paul hustete sich kurz frei. Da keiner etwas dagegen einwendete, fuhr er fort: »Ich bin im Frühjahr beinahe draufgegangen und meine Schwester hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten. Dabei habe ich meine Freundin kennengelernt, mit der ich noch möglichst lange zusammenbleiben möchte. Diese beiden Menschen sind mir wichtig. Wichtiger als du, Tillmann. Deshalb ist es mir lieber, wenn du es versuchst, als wenn keiner es tut und Tessa Rache an einem meiner Mädchen übt, vielleicht sogar an beiden.«
Das war starker Tobak und schnitt unser Gespräch erneut ab. Paul hatte Tillmanns eigene Geschütze gewählt. Schonungslose Ehrlichkeit. Im Grunde musste Tillmann damit umgehen können. Doch Einblick in seine Seele gestattete er uns nicht. Mit niedergeschlagenen Wimpern saß er vor uns und dachte nach. Es war unmöglich zu sagen, ob Pauls Worte ihn verletzt oder gar angespornt hatten. Ich hielt es für denkbar, dass Paul ihn derart provozierte, damit er aufgab. Doch ich kannte Tillmann besser als er. Tillmann würde nicht aufgeben.
»Ich bin also dafür«, ergriff Paul erneut das Zepter. »Ellie? Was ist mit dir?«
Ich überlegte nicht lange. Wenn ich ihn in seinem Vorhaben bestärkte, würde er mich vielleicht wieder als Freund wahrnehmen, mich in seine Überlegungen einbeziehen und sich nicht länger in seinem Dachzimmer von mir abschotten. Ich wusste nicht mehr, ob ich ihm vertrauen konnte, doch ich wollte es tun. Wenn nicht ihm, wem dann?
»Ebenfalls dafür.«
»Ich bin dagegen, ohne Kompromisse«, sagte Gianna. »Ich lasse keinen Siebzehnjährigen ins Messer laufen.«
»Dann sind es ja drei Stimmen gegen eine und die Entscheidung ist gefallen. Danke.« Tillmann ließ uns noch immer nicht in seine Augen blicken, doch Pauls Versuch, ihm Angst zu machen, war ins Leere gelaufen. Mein Bruder akzeptierte seine Niederlage stumm. Vielleicht war er es inzwischen gewohnt zu verlieren. Gianna stand auf und drehte sich von uns weg, um ihre Arme auf die Brüstung zu stützen und in die Nacht zu schauen. Wahrscheinlich brauchte sie einen Moment, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Uns durften jetzt nicht die Nerven durchgehen. Noch war erst der Anfang geklärt, aber nicht die entscheidenden Punkte. Deshalb wollte ich meine Jastimme sofort als Druckmittel benutzen.
»Bedingung ist aber, dass du uns sagst, was genau du vorhast und wie du dich schützen willst.«
»Kann ich noch nicht. Aber ich glaube, dass meine Idee funktioniert – nein, Ellie, schau mich nicht so an, ich kann es nicht sagen! Noch nicht! Ich werde dich einbeziehen, sobald ich es weiß. Du wirst eingeweiht, versprochen.«
»Und
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