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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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werde es merken, wenn sie kommt, glaubt mir, und wenn Tillmann und ich es nicht merken, wird Colin es spüren und er wird uns auch sagen können, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
    Für einige Augenblicke hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich den anderen verschwieg, was heute Nacht geschehen war. Ein fast unhörbares Knistern auf dem groben Verputz der Wand hatte mich geweckt – das Knistern von chitinüberzogenen Beinen, die sich ihren Weg bahnten, vorsichtig, aber unaufhaltsam. Ich hatte nicht das Licht angeknipst, sondern darauf gewartet, dass meine Augen in der Dunkelheit sehen konnten. Als das Knistern verklang, war es so weit. Der längliche Schatten direkt neben meinem Gesicht, der sich so elegant und kraftvoll an die Wand schmiegte, bekam Sekunde für Sekunde deutlichere Konturen. Es war nur ein kleiner Skorpion, nicht größer als mein Daumen und gezeichnet von einer auffällig gelb-schwarzen Maserung, doch in sich vollkommen, eine perfekte, Ehrfurcht gebietend schöne Schöpfung, von Meisterhand erschaffen.
    Still blieb ich liegen und dankte ihm für sein Kommen, dankte ihm dafür, dass ich ihn ansehen durfte, bei ihm sein konnte. Ich hätte gerne über seine prall gefüllte Giftblase gestrichen, unter der das Serum senfgelb glitzerte, hätte gerne seine Scheren berührt und meine Fingerspitzen auf seinen kühlen Panzer gelegt. Doch ich wollte seine Ruhe nicht stören. Er würde mir nichts tun, solange ich ihm nichts tat. Er hatte sich nur bei mir verirrt und sammelte neue Kräfte, bis seine Instinkte ihm wieder sagen konnten, wohin er gehen musste.
    Nein, der Skorpion hatte nichts mit Tessa zu tun. Gianna hatte uns vor diesen Tierchen gewarnt, doch ihr Biss war nicht gefährlicher als ein Wespenstich und vor allem hatte er sich nicht unnatürlich oder gar krank verhalten. Ich wollte ihn nicht verraten. Ich hoffte sogar, dass er wiederkam. Wenn ich mein Zusammentreffen mit ihm erwähnte, würde ich nur blinde Hysterie auslösen. Und wie ich Paul kannte, würde er sich sofort berufen fühlen, den Kammerjäger zu spielen und das komplette Haus auszuräuchern.
    »Allora«, holte Giannas Stimme mich in die Gegenwart zurück. Das Bild des Skorpions verblasste langsam vor meinen Augen. »Ihr werdet es spüren. Wenigstens etwas. Aber wie töten wir sie?«
    »Vielleicht stellt sich eher die Frage, wer sie tötet«, wandte Tillmann ein.
    »Jetzt fang nicht schon wieder damit an …«
    »Genau das ist aber die zentrale Frage!«, rief Tillmann und fegte die Überreste des Bierdeckels zu Boden. »Genau das. Colin liebt sie nicht und er wird sie nicht töten können. Sei doch froh, dass es so ist, Ellie! Einen anderen Mahr werden wir nicht finden. Also kann nur ich es tun und ich will es tun.«
    Für Minuten herrschte entsetztes Schweigen. Ich war hin- und hergerissen. Mich überraschte Tillmanns Vorschlag nicht so sehr wie die anderen, doch auf der anderen Seite wurde mir mein Zwiespalt schmerzlich bewusst: Ich hoffte und fürchtete zugleich, dass er es tun würde.
    Paul räusperte sich drohend. »Ich dachte eigentlich, wir sehen spätestens heute Abend ein, dass es zwecklos ist, und fahren wieder nach Hause, bevor Tessa sich überhaupt nähern kann.«
    »Du spinnst ja wohl«, motzte ich, obwohl ich gewusst hatte, dass Paul das sagen würde. »Ich haue nicht ab. Wir haben für dein Glück gekämpft, also werde ich mir das Recht nehmen, für mein Glück zu kämpfen. Und ich will Papa wiederfinden.« Gegen diese Argumente war Paul machtlos. Er lehnte sich aufseufzend zurück und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust, widersprach aber nicht. Es tat mir leid, ihn damit in die Ecke zu drängen, sehr sogar. Denn das bedeutete für ihn, sich erneut den Beschlüssen anderer zu beugen und passiv zu verharren. Doch es ging nicht anders.
    »Ich will es tun«, wiederholte Tillmann drängend. »Ich werde sie töten.«
    »Nein. Ausgeschlossen. Das lasse ich nicht zu. Du bist minderjährig und …«
    »Jetzt komm nicht mit so etwas an, Gianna! Minderjährig!« Tillmann lachte höhnisch. »Was spielt das denn für eine Rolle? Hier geht es um Mahre, die scheren sich auch nicht um dein Geburtsdatum!«
    »Ja, aber ich schere mich um dich! Ich hab Verantwortung für dich! Das hier ist mein Haus, du wohnst bei mir, ich möchte nicht deine Leiche in meinem Wohnzimmer liegen haben, capisci?«
    »Lass uns wenigstens darüber nachdenken, Schatz«, sagte Paul mit ruhiger Stimme. Überrascht sah ich auf. »Nur nachdenken. Denn

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