Dornenkuss
überreden, mit uns baden zu gehen, meistens in den späten Nachmittagsstunden, wenn die Hitze etwas nachließ, doch er hielt es nie lange am Strand aus und zog sich bald wieder in sein Kabuff zurück. Weder konnten wir verstehen, was ihn bewegte, sich derart vehement auszuschließen, noch warum ausgerechnet er sich zurückzog. Denn er war geradezu heiß darauf gewesen, Tessa herbeizulocken und sich ihr zu stellen – mehr als jeder andere von uns.
»Ich glaube, er ist nicht teamfähig, Ellie.« Gianna ließ ihr Messer sinken und sah mich fest an. Die wenigen Sonnentage hatten ausgereicht, um ihren olivfarbenen Hautton mit einem dunklen bronzenen Schimmer zu überziehen, während ich mit einer schauderhaften Mallorca-Akne in den Kniekehlen und Armbeugen kämpfte, die erst Bläschen warf, dann juckte und nach dem Aufkratzen wie Feuer brannte. Doch langsam heilten die offenen Stellen ab und ich sah nicht mehr aus wie eine lepröse Krabbe.
»Ich weiß, dass du ihn magst«, sprach Gianna weiter und gestikulierte dabei mit dem Messer gefährlich nah vor meiner Nase herum. »Aber mein Eindruck hat sich bestätigt: Er ist ein verzogener, unreifer Lümmel, der versucht, sich vor allem zu drücken, was Arbeit bereiten könnte.«
Das stimmte allerdings. Paul hatte den Stall im Garten alleine herrichten müssen; außerdem hatte er mit Giannas Dolmetscherhilfe Heu- und Strohballen organisiert und liefern lassen. Tillmann hatte nicht einen Finger krumm gemacht, um ihm zur Hand zu gehen, obwohl Paul ebenso unter der Hitze litt wie ich.
Trotzdem musste ich Gianna widersprechen. »In den wirklich riskanten Situationen konnte ich mich bisher auf Tillmann verlassen. Er war immer loyal und hat seine eigene Sicherheit hintenangestellt. Er hat sich sogar François angeboten, um zu testen, ob er noch in der Lage war zu rauben!«
»Mag sein, aber Menschen verändern sich. Ich habe den Eindruck, er wollte nur weit weg von der Schule und seinen Pflichten, um in aller Ruhe seinen Egotrip durchzuziehen. Und das dulde ich nicht.« Gianna schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Ich trat zur Spüle und hielt meine klebrigen Finger unter den Hahn, damit Gianna mein Grinsen nicht sehen konnte. Ich amüsierte mich immer wieder über das fast herrische Selbstbewusstsein, das sie an den Tag legte, seitdem wir in Kalabrien waren. »Matrönchen« nannte Paul sie manchmal zärtlich, wenn sie uns aus der Küche scheuchte – die Küche war ihr Hoheitsgebiet und auch ich durfte diese heiligen Hallen nur zum Schnibbeln des Obstsalats betreten –, unser Italienisch korrigierte oder beim Einkaufen hitzige Diskussionen mit dem Metzger führte. Paul nahm ihr auffrischendes Temperament gelassen, denn es gab immer noch genügend Momente, in denen Gianna sich schutzbedürftig wie ein kleines Kind an ihn lehnte und der Neid mir das Herz zerfraß.
Ich fühlte mich einsam, obwohl ich es kaum eine Minute war, und je mehr Tage verstrichen, ohne dass Colin auftauchte, desto weniger ertrug ich meine Ruhelosigkeit. Oft hatte ich keinen Hunger und konnte nur mit viel Disziplin ein paar Bissen herunterwürgen, Schlafen war eine reine Glückssache geworden, und das nicht nur wegen der Hitze, die einen selbst im Ruhen schwitzen ließ. Sogar das Atmen war anstrengend. Immer wieder begann mein Herz zu rasen, weil ich den Eindruck hatte, nicht genügend Luft in meine Lungen pumpen zu können. Außerdem begann Tillmann mir zu fehlen.
Ohne ihn fühlte ich mich oft wie das fünfte Rad am Wagen. Ich konnte Paul und Gianna nicht ansehen, ohne mich zu fragen, wann Colin endlich kommen würde, und gleichzeitig bohrte die Sorge um Paul in mir, denn noch immer zeichneten ihn die Spuren des Befalls. Ich hatte gehofft, er würde innerhalb weniger Tage aufleben und zu seiner alten Form zurückkehren, jetzt, wo wir weit weg von Hamburg und im Süden waren. Doch ich wusste, dass er sich ständig mit der Frage quälte, wie es überhaupt so weit kommen konnte, wie er François so viel Macht hatte verleihen können, ohne von ihm dazu gezwungen oder bedroht worden zu sein. Paul wiederum beobachtete mich, versuchte, meine Gedanken zu lesen und zu ergründen, was mich trieb, mit einem Mahr zusammen zu sein, obwohl er zu den Wesen gehörte, die so viel Leid und Elend über unsere Familie gebracht hatten. Ich hätte gerne mehr mit Paul geredet und Zeit zu zweit mit ihm verbracht, doch ich wusste zu gut, worauf es hinauslaufen würde: anstrengende Diskussionen über meine Partnerwahl und
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