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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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offensichtlich auch mit mir. Dass wir das wollten, war keine Frage, kein einziges Wort wert gewesen, es war so klar und natürlich und von unserem Schicksal vorherbestimmt, dass wir alles andere vergaßen, es hatte nur noch uns gegeben. Keine Familien, keine Freunde, keine Aufgaben. Nur uns und unsere Körper, die ohne einander nicht konnten. Ich hatte mir etwas davon versprochen, alles sogar, es war, als könne ich dadurch ein anderer Mensch werden …
    Und das, während eine Schlange in meinem Bett lag. Freud hätte seine helle Freude an diesem Traum gehabt.
    Doch die Schlange hatte mir keine Angst eingeflößt, nicht einen Atemzug lang, und auch keine Lust. Als ich sie gespürt hatte, war Grischa sofort verblasst, ohne die bohrende Wehmut zu hinterlassen, mit der seine Träume mir sonst den Tag verdarben. Denn ich wusste, dass ich jederzeit zu ihm zurückkehren konnte, wenn ich nur mit mir geschehen ließ, was der Traum von mir verlangte.
    Nein, Freud, du liegst falsch, dachte ich triumphierend. Ich selbst war die Schlange gewesen. In meinem zweiten Traum hatte mein Körper gar nicht mehr existiert. Ich hatte ihn verlassen, um den Leib der Schlange mit meiner Seele zu besetzen. Pure Harmonie hatte mich durchwoben. Eine Harmonie, wie ich sie als Mensch niemals empfinden würde.
    Ich hatte schon einmal geträumt, mich in ein Tier zu verwandeln, und auch damals war es mir erstrebenswert vorgekommen. Ich war mir beim Aufwachen sofort dessen bewusst geworden, dass ich ein Mensch war, auch wenn ich versucht hatte, die Energie des Tieres in mir zu bewahren. Doch jetzt hatte ich minutenlang im Bett gelegen und mich nicht bewegen können, weil etwas von mir immer noch unter den Schuppen der Schlange weilte und nicht fortwollte. Ich hatte Gianna angezischt … Wäre sie noch näher gekommen, hätte ich nach ihr geschnappt … Aber hatte ich tatsächlich Gianna beißen wollen? Oder etwas anderes, einen drohenden dunklen Schatten, der bereit war, sich auf mich herabzusenken? Tessa?
    Seufzend drehte ich mich auf den Rücken und schaute auf die flirrenden Schatten an der Zimmerdecke, Reflexionen des stetigen Spiels des Windes in den Silberpappeln.
    Mehrere Tage waren bereits vergangen, seitdem Colin zu uns gestoßen war, und ich hatte ihn in dieser ganzen Zeit nur wenige Stunden zu Gesicht bekommen. Das Candle-Light-Dinner war zwar keine Katastrophe geworden, hatte aber auch nicht einen Funken Romantik innegehabt.
    Colin konnte ich das schlecht vorwerfen, obwohl eine hartnäckig flüsternde, enervierende Stimme in meinem Kopf das gerne getan hätte. Es war vor allem mein Bruder gewesen, der die Atmosphäre ruiniert hatte. Anders konnte man es nicht sagen, so ungern ich das auch tat. Paul gelang es nicht, Colin zu akzeptieren. Und wir waren – ausgenommen Tillmann – zu feinfühlig, um das zu ignorieren und uns trotzdem einen schönen Abend zu machen. Paul hatte sich zwar Mühe gegeben, aber es war nicht zu übersehen, dass er jede Bewegung Colins belauerte und sich in seiner Gegenwart unbehaglich fühlte. Das ging übrigens nicht nur Paul so, sondern allen Menschen, die in unsere Nähe kamen. Am liebsten hätten sie uns aus dem Restaurant geschmissen, obwohl wir uns mustergültig benahmen, unsere Rechnung bezahlten, ein großzügiges Trinkgeld hinterließen und das Essen lobten (von dem Colin nur wenige Bissen herunterwürgte). Die Stimmung war aufgeladen: das ständige Gebell der Hunde – in Italien gab es viele Hunde –, das Quengeln und Heulen der Kinder und das fast läufig wirkende Anbiedern der Dorfkatzen, die um Colins Beine strichen und immer wieder versuchten, auf den Tisch zu springen. Natürlich konnten die Menschen die Quelle dieser Unruhe nicht zuordnen, doch eines war klar: Wir störten.
    Ich war bereits ernüchtert gewesen, als wir den Ort erreichten. Ich hatte mir ein malerisches Bergdörfchen vorgestellt, ähnlich wie Verucchio, das mir inzwischen wie die Heilige Stadt erschien. Doch die Armut Calopezzatis schrie einem aus jeder Gasse, jeder Nische, jedem Hauseingang entgegen. Die Fassaden der Häuser wirkten schmutzig, die Mauern bröckelten, die Straßen hätten dringend saniert werden müssen. Ich fragte mich, ob es in diesen kurios schmalen Gassen überhaupt eine funktionierende Kanalisation gab.
    Trotzdem: Auch von hier oben bot sich uns ein sagenhafter Ausblick auf das Meer und das ewige Farbspiel aus dem Grau des Strandes, den trockenen Ginsterhainen und dem ruhigen, unendlichen Azur des Wassers, das

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