Dornenkuss
der Einsamkeit hatte sich mit Colins Ankunft verschärft und nicht gemindert. Sein Fehlen wurde mir nur allzu deutlich bewusst und meine gefräßige Sehnsucht kaum besser, wenn ich von morgens bis abends mit einem frisch verliebten Pärchen konfrontiert wurde. Oft fühlte ich mich vollkommen überflüssig. Ja, es wurde Zeit, dass sich etwas änderte.
Ich stand auf, duschte, zog mir einen kurzen Jeansrock und ein Spaghettiträgershirt über und ging in die Küche. Während Gianna Töpfe und Pfannen scheppern ließ – in einem Bottich verlebten Muscheln aus dem Meer gerade ihre letzten Minuten, bevor sie ins Kochwasser geworfen wurden –, nahm ich mir ein kaltes Stück Pizza aus dem Kühlschrank, aß es eilig und trank ein paar Schlucke Bier hinterher. (Das italienische Bier war so dünn, dass selbst ich kaum etwas davon spürte.) Dann verließ ich mit einem knappen Gruß das Haus. Vielleicht waren Gianna und Paul sogar froh, einen Abend ohne mich verbringen zu können. Tillmann hockte sowieso wieder auf dem Dachboden und strafte uns mit Abwesenheit.
Mein Herz klopfte schneller, als ich Colin in der Brandung stehen sah, allein und mit dem Rücken zu mir, doch es war ein unruhiges Klopfen, kein gleichmäßiges und belebendes. Eine Vorahnung? Ich hielt inne und prüfte mit gerunzelter Stirn, ob ich lieber wieder ins Haus verschwinden wollte. Nein, auf keinen Fall. Also lief ich zu ihm.
»Hey«, begrüßte ich ihn. Der Sonnenuntergang tauchte ihn in rötliches Licht. Alles an ihm schien zu lodern, doch bald würden seine Haare und Augen sich ihre gewohnte Schwärze zurückerkämpfen. Die Punkte auf seiner Haut waren schon kaum mehr zu erkennen. Einen Blick in seine Augen gewährte er mir nicht; sie waren auf das Wasser gerichtet, doch ich sah vor mir, wie sie in diesem verwirrenden Kaleidoskop aus Grün, Türkis und Braun das schwindende Blau des Meeres spiegelten.
»Und, worüber möchtest du mit mir sprechen?«, fragte ich betont kühl, um ihn aus der Reserve zu locken. Er sollte nicht glauben, ich hätte mehr erwartet, hoffte aber im Gegenzug, dass er sich mehr wünschte als nur ein Gespräch.
Colin schaute noch immer auf den Horizont, als er antwortete. »Ich wollte dich an dein Versprechen erinnern.«
Mir wurde kalt und heiß zugleich. Hatte ich ihn richtig verstanden? Deshalb hatte er mich hergebeten?
»Du wolltest – was? Aber …«
Endlich drehte er sich zu mir um. Nein, er erlaubte sich keinen Spaß. Unergründlicher Ernst lag in seinem Blick und zugleich eine Ermahnung, die ich gerne mit Füßen getreten hätte. »Ich habe mein Versprechen gehalten, Ellie. Was ist mit deinem?«
»Ich kann nicht glauben, dass du jetzt und hier damit anfängst, Colin! Ich kann das nicht glauben!«, rief ich. Meine Stimme klang gequetscht, weil meine Wut und Hilflosigkeit mir die Kehle zuschnürten.
»Glaube es. Es ist so. Was ist mit deinem Versprechen?«, wiederholte er emotionslos, obwohl seine Augen kurz aufglühten, als schwele in ihnen ein tödlicher Zorn. Ich wich einen Schritt zurück, nicht aus Angst vor ihm, sondern weil ich verhindern wollte, dass ich ihn trat oder schlug.
»Ich sollte darüber nachdenken, das war mein Versprechen und das habe ich getan! Nur darüber nachdenken!«
»Lüg mich nicht an, Ellie.« Colin verkürzte den Abstand zwischen uns, ohne mich zu berühren, doch ich fühlte seinen kalten Atem auf meinem Gesicht. Seine Haare streckten sich spielerisch nach meinen aus. Wieder wollte ich zurückweichen, aber ich stemmte die Fersen in den Sand, denn er sollte sich nicht einbilden, ich fürchte mich vor ihm. »Du hast nicht darüber nachgedacht, keine einzige Sekunde. Du schiebst es nur von dir weg.«
»Weil es sinnlos ist, jetzt darüber nachzudenken! Absolut sinnlos!«, schrie ich. Ich verfluchte die Verzweiflung, die in meinem hohlen Schreien lag. Es dröhnte in meinem Kopf und drückte gegen die dünnen Wände meiner Adern. Trotzdem fühlte es sich machtlos an. Er konnte das doch nicht so meinen, wie er es sagte, das musste ein Test sein, vielleicht sogar ein Scherz, womöglich irgendeine blöde Samurai-Prüfung, die ich vergessen hatte. »Es ist sinnlos, solange Tessa nicht gekommen ist, und vorher werde ich nicht darüber nachdenken! Ich werde es nicht tun! Denn danach wirst du es gar nicht mehr wollen, weil du frei bist!«
»Ach, entscheidest du alleine, wann deine Versprechen eingelöst werden? So ist das also?«, höhnte Colin. »Du irrst. Ich werde niemals frei sein. Ich bin
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