Dornenkuss
Intuition gab mir diese Worte vor. Etwas tief in meinem Innern sagte mir, dass diese Schlange mich nicht hatte beißen wollen. Niemals.
»Woher weißt du …?« Gianna stockte. »Warum hast du nicht geschrien? Du konntest nicht, oder? Was hattest du eigentlich geträumt?«
»Geht euch nichts an.« Nein, mein Traum ging sie wahrhaftig nichts an, obwohl mir mein eigenes Benehmen langsam unheimlich wurde – und peinlich dazu. Was war da eben mit mir geschehen? Vor allem musste ich die Wut eindämmen. Sie rang bereits mit mir.
»Okay, ist ja gut.« Gianna hob beschwichtigend die Hände. Paul schüttelte den Kopf. Er setzte an, etwas zu sagen, stoppte sich aber selbst. Mein Blick hielt ihn sowieso ab, seine Gedanken auszusprechen. Stört mich nicht in meiner Welt, zischte es plötzlich in mir, wie eine letztes Aufbäumen meiner Entrücktheit, die mich vor wenigen Minuten noch vollkommen umfangen hatte. Aber Gianna und Paul hätten meinen Traum sofort fehlgedeutet, weil sie nicht verstehen konnten, was mit mir passiert war. Keiner konnte es verstehen und deshalb machte es auch keinen Sinn, davon zu erzählen – abgesehen davon, dass ich all das, was mir eben widerfahren war, aus unerfindlichen Gründen für mich behalten wollte, als mein Kleinod, meinen Schatz, meine Gabe. Die Viper war für einige Momente meine Gefährtin gewesen, deren Zauber nur ich begreifen konnte. Ich hatte mich wohl mit ihr gefühlt.
»Wie spät ist es?«, fragte ich, um Gianna und Paul von mir abzulenken, und setzte mich wieder auf mein Bett. Gianna hatte vorhin eine Zeitangabe gemacht, doch Zahlen und Fakten waren in diesem Augenblick uninteressant und nebensächlich für mich gewesen.
»Kurz nach sieben«, antwortete Paul. Noch immer las ich Skepsis und wissenschaftliches Interesse in seinen stahlblauen Augen. Aber ich war nicht sein Forschungsobjekt. Er sollte seinen Medizinergeist woanders ausleben. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, weil du nicht an den Strand gekommen bist. Deshalb haben wir nach dir gesehen. Und dann – das hier.«
Kurz nach sieben. Ich hatte noch knappe drei Stunden, bis ich mich mit Colin am Meer treffen würde. Aber Gianna hatte richtig gerechnet: Ich hatte viel zu lange geschlafen und ich wusste nicht, ob ich von allein wieder aufgewacht wäre. Einen Atemzug lang gruselte ich mich vor mir selbst. Immer öfter hatte ich in den vergangenen Tagen während der Siesta schwere, hypnotische Träume gehabt, die mich so fest umschlangen, dass ich um das Erwachen kämpfen musste. Und wenn es mir endlich gelang, wollte ich am liebsten so-’ fort wieder einschlafen. Auch jetzt hatte ich nicht das geringste Bedürfnis aufzustehen.
»Ich glaube, ich bleib noch bisschen liegen. Mein Kopf …«, murmelte ich entschuldigend. Ich wollte allein sein, damit ich Gianna und Paul in meiner plötzlich wieder aufflackernden Wut nicht noch verärgerte. Es genügte, dass ich sie in Sorge versetzt hatte.
Paul legte mir prüfend die Hand auf die Stirn. »Hast du vielleicht zu viel Sonne abbekommen?«
»Kann sein.« Ich zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich war eben gar nicht richtig bei mir.« Aber eine Schlange war bei mir gewesen. So nah bei mir … Wie war sie überhaupt ins Zimmer gekommen? Durch die Ritzen der Fensterläden?
»Dann ruh dich aus, Schwesterchen. Ich bring dir was zu trinken. Und danach suche ich dieses verfluchte Biest …«
Versteck dich, schnell!, dachte ich inbrünstig und sah noch einmal kurz die Viper vor mir, wie sie sich lautlos durch das trockene Grün des Gartens davonschlängelte. Sie musste sich verstecken. Ich wollte nicht, dass sie meinetwegen sterben musste. Sie hatte mir nichts getan.
Nachdem Paul mir ein Glas Wasser gebracht hatte, streckte ich mich wieder lang aus und drehte mich zur Wand, meine Augen auf jene Stelle gerichtet, an der sich Nacht für Nacht der Skorpion zeigte. Ich gehörte zu seinem Revier. Seine Besuche waren zu einem geliebten Ritual geworden. Ich hatte vor ihm ebenso wenig Angst, wie ich sie vor der Schlange gehabt hatte.
In Gedanken kehrte ich zurück zu meinen Träumen. Zwei waren es gewesen, die ineinander übergegangen waren, rekapitulierte ich mit geschlossenen Lidern. Der erste … oh. Ja, es ging wirklich niemanden etwas an. letzt konnte ich seine Bruchstücke wieder zusammensetzen. Grischa. Schon wieder. Ich knurrte vor Unwillen, als ich mich erinnerte. Dieses Mal hatte mein Unterbewusstsein noch eine Schippe draufgelegt. Ich hatte mit ihm schlafen wollen. Er
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