Dornenkuss
vollkommen verschwinden, wenn ich mich rührte.
Gianna und Paul durften mich nicht anfassen. Nicht nur deshalb, weil sie mich dann herausholen würden. Sie durften es nicht, weil sie sich dabei erschrecken würde. Sie würde beißen. Verzückt wand meine Seele sich in dem Gefühl ihrer Kühle an meinen Beinen, ihrer glatten, schuppigen Haut, die sich in meine Kniekehlen schmiegte, und des kaum spürbaren Gewichts ihres ovalen Kopfes, den sie auf meinen Oberschenkel gebettet hatte. Ich sah ihre leuchtend orangen Augen und die gleichmäßige grau-schwarze Musterung entlang ihres Rückgrats, ein Geschenk der Natur, harmonischer, als wir es je sein würden.
»Ellie, wach auf!«, rief Gianna. Nun klang sie nicht nur besorgt, sondern auch panisch und hilflos. »Sie wacht nicht auf … Es kann doch nicht sein, dass sie seit heute Nachmittag um zwei geschlafen hat. Fünf Stunden lang! Ellie …«
Sosehr ich es auch auskosten wollte, hier zu liegen, ohne meinen eigenen Körper bewegen zu können: Gianna durfte mich nicht berühren. Es war an der Zeit, wieder die Gewalt über diese lästige Hülle zu bekommen, die mich umgab und so selten nach meinem Willen funktionierte. Jetzt musste sie es tun. Ein letztes Mal versank ich in den kühlen Blutbahnen des Wesens, das sich anmutig um meine Beine schlang, und zapfte Kraft aus ihm. Dann, im allerletzten Moment, einen Sekundenbruchteil bevor Gianna meine Schulter packen wollte, reagierte meine Wirbelsäule.
Mein Kopf schnellte nach oben und aus meinem Mund ertönte ein warnendes Zischen, aggressiv und giftig. Weiche von mir! Gianna zuckte so heftig zurück, dass sie ihren Ellenbogen in Pauls Bauch rammte. Oh, was waren wir nur für missgebildete Konstruktionen. Kein Tier würde torkeln, wenn es erschrak, und erst recht nicht die stolze Jägerin, mit der ich mein Lager und meine Seele geteilt hatte. Sie blieb immer geschmeidig und elegant und kühl … so kühl …
Doch sie witterte die Fremden um uns herum. Sie fühlte sich von ihnen gestört wie ich. Sie rollte sich zwischen meinen Knien zusammen, hob den Kopf leicht an und zischte ebenfalls.
»Was war das?«, flüsterte Gianna. »Das klang wie … oh nein …«
»Eine Schlange«, vollendete ich ihren Gedanken ungerührt, obwohl es mir wie ein Frevel vorkam, meine Zunge zu menschlichen Lauten zu formen. Ich umfasste den Kopf der Viper – zärtlich, vertraut – und zog sie langsam unter meinem dünnen Laken hervor. Ich kam mir ungelenk und fehlgesteuert vor, vom Haupt bis zu den Füßen schlecht durchdacht und zusammengebaut, als ich mich erhob, zur Terrasse stakste und die Schlange über die Brüstung des Geländers hinab in den Garten gleiten ließ. Gianna und Paul folgten meinen Bewegungen mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern.
»Madonna!« Gianna bekreuzigte sich rasch. »Zum Glück hab ich dich nicht angefasst … Deshalb hast du so steif und reglos dagelegen! Es sah aus, als wärst du gelähmt!«
»Das dachte ich auch«, fiel Paul lebhafter als üblich ein, offensichtlich erleichtert, dass alles seine natürliche Erklärung hatte. »Eine Schlaflähmung. Du hattest geträumt, oder? Deine Lider haben gezuckt, und als deine Augen zwischendurch offen waren, hast du nichts gesehen, richtig? Das ist ein beschissenes Gefühl, kommt aber ziemlich häufig vor. Hatte ich auch schon.«
Du Tor, dachte ich mit mildem und mir selbst befremdlichem Spott. Ich hatte alles gesehen – und noch viel mehr. Ja, ich war gelähmt gewesen. Gelähmt, als ich aufwachte, und gelähmt, als Gianna und Paul Minuten später ins Zimmer kamen. Aber Furcht? Angst? Entsetzen? Keinen einzigen Moment lang. Ich hatte mich höchstens darüber gewundert, bevor ich mich dem Anderssein ergab, und es fehlte mir jetzt schon. Ich hätte gerne die zarten, erquickenden Nachwehen ausgekostet, alleine, und spürte, wie sich Wut in mir zu regen begann; Wut darüber, gestört worden zu sein. Doch Paul und Gianna sahen nicht ein, mich in Ruhe zu lassen. Je länger sie bei mir blieben und mich anstarrten, desto wacher wurde ich. Wacher und klarer.
»Ob sie giftig war?« Gianna hob das Laken an und blickte skeptisch auf meine Matratze, als könnten sich weitere Schlangen darunter verbergen.
»Ja, das war sie«, entgegnete ich ruhig und begann gleichzeitig zu frösteln. Wo blieb meine Angst? Herrgott, unter meiner Bettdecke hatte eine Viper gelegen. Ich musste Angst haben! »Sie beißt nur, wenn sie angegriffen wird oder sich belästigt fühlt.« Meine
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