Dornenkuss
ich langsam zu akzeptieren und vielleicht sogar zu mögen begann. Über die Pizzeria konnte man sich auch nicht beklagen. Plastikstühle und -tische wie überall, aber sauber und mit anfangs noch sehr freundlicher Bedienung.
Ich bemühte mich, die positiven Aspekte zu sehen und mich daran zu ergötzen, dass Colin bei uns saß. Doch Pauls Beobachten und Missbilligen und die furchtsam-feindseligen Reaktionen der anderen Menschen verdarben es mir. Gianna mochte ja richtigliegen, wenn sie dachte, dass ein gemeinsames Essen in schönem Ambiente glücklich stimme. Doch das traf nicht zu, wenn man einen Mahr bei sich hatte.
Colin zog sich bald zurück. Nicht eine einzige Zärtlichkeit hatte es zwischen uns gegeben, weil Colin seine Hände bei sich hielt, um meinen Bruder nicht zu verärgern (ich hoffte jedenfalls, dass das der Grund war), und mir nicht nach Nähe zumute war, während die Kellner uns finster taxierten und die bambini zu kreischenden Wutbündeln mutierten. Ich fühlte mich schuldig. Wie mochte es erst Colin ergehen?
Er brach mitten im Essen auf, tippte sich nur kurz an die Schläfe und lief lässig, aber unnahbar wie immer die Straße hinab, um Louis aufzulesen, den er in einem verlassenen Stall abseits der Stadt angebunden hatte, und zum Jagen in die Berge zu reiten.
Danach hatte Colin sich zwei ganze Tage und Nächte lang nicht mehr blicken lassen. Erst am dritten Tag tauchte er bei Sonnenuntergang plötzlich mit Louis am Strand auf, während wir Volleyball spielten, und dieses Mal reagierten die Menschen zwar verhalten, aber nicht unfreundlich. Dabei zuzusehen, wie Colin Louis überredete, in die Brandung zu laufen und dort mit ihm baden zu gehen, war ein willkommenes Spektakel und der Abstand zwischen den Menschen und dem Dämon so groß, dass sie seine Aura nicht bemerkten, vielleicht auch nicht bemerken wollten. Außerdem sah Colin satt aus.
Und es war ja auch ein Schauspiel! Man war versucht, die Szenerie zu filmen, Andrea tat es sogar, doch – oh Wunder – seine Handykamera streikte. Man konnte bei aller intuitiver Zurückhaltung und vielleicht Furcht nicht übersehen, welch vertrauensvolle, kompromisslose Zwiesprache Mann und Pferd miteinander verband, und ebenso wenig, was für ein fantastischer Reiter Colin war. Als es ihm endlich gelang, Louis im kontrollierten Galopp durch die wogende Brandung zu treiben, klatschten einige Sonnenanbeter sogar Beifall. Gianna begaffte ihn mit unschuldiger Faszination und überlegte laut, ob er ihr vielleicht mal Reitstunden auf Louis geben könnte.
Ich jedoch war still stehen geblieben, den sandigen Volleyball in meinen Händen, und hatte mir gewünscht, trotz meiner Pferdeangst ein Teil dieses Spiels sein zu können. Colin hielt nur kurz bei uns an, nachdem er seine Pferdeschwimmstunde beendet hatte, und fragte mich, ob ich ihn am nächsten Abend gegen 22 Uhr am Strand treffen könnte. Es war eine so normale Frage gewesen, dass ich verdutzt Ja gesagt und ihn weiter zu unserem Haus ziehen lassen hatte. Er müsse etwas mit mir besprechen, hatte er noch hinzugefügt, bevor er Louis die Fersen in die Flanken gedrückt hatte.
Wahrscheinlich ging es um Tessa, um die Formel und um das, was wir vorhatten. Er wollte erneut wissen, ob wir einen Plan geschmiedet hatten. So musste es sein. Aber in diesem Punkt würde ich ihm nicht helfen können. Ich wusste es selbst nicht. Bisher hatte Tillmann mich nicht in sein Vorhaben eingeweiht, was mich mitunter zum Kochen brachte, aber auch eigentlich nicht nötig war, denn vom Glück waren Colin und ich weit entfernt. Es frustrierte mich ungemein, das vor mir selbst zuzugeben, doch meine Schuld war es nicht – wenn er tagelang verschollen blieb, war das nun mal eher kontraproduktiv und das musste er eigentlich wissen. Warum also tat er es? Warum mied er mich?
Nein, ich sollte mich nicht meines Grischa-Traumes schämen, beschloss ich starrköpfig. Träume wie dieser würden mich gewiss nicht heimsuchen, wenn Colin mir ein klein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken würde. War sein Hunger wirklich so stark, dass er sich ständig oben in den Bergen herumtreiben musste?
Doch das konnte ich ihn jetzt ja direkt fragen. Allein, ohne die anderen und ohne fremde Zuschauer, denn sobald es dämmerte und die Essenszeit heranrückte, leerte sich der Strand. Es gab weitere Fragen, die mir auf der Seele lasteten. Schon seit einigen Tagen beschäftigten sie mich, wenn ich zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Also ziemlich oft.
Mein Gefühl
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