Dornenkuss
Ellie«, erwiderte Colin scharf. »Nein, es reicht nicht. Glück ist etwas, was nur blühen kann, wenn man es teilt.«
»Das ist wohl wahr«, pflichtete Gianna ihm eingeschüchtert bei. »Also ist Tessa …?«
»Nein, sie ist noch nicht unterwegs«, sagte Colin etwas ruhiger. »Keine Sorge, Gianna.«
»Gott sei Dank.« Gianna griff sich an die Brust und brabbelte ein kurzes Gebet. Dann streckte sie ihre Hand nach Colin aus. »Hallo, Colin. Schön, dass du da bist.«
Als er ihre zarten Finger in seine schloss, fuhr Gianna heftig zusammen. Natürlich, seine kalte Haut. Doch sie zog sie nicht zurück, sondern ließ sie bei ihm. Mutig sah sie ihm in die Augen, deren Schwarz mit der ersten Helligkeit des Tages in ein grünliches Braun überging. Gleich würde es sie müde machen.
»Guten Morgen, Gianna«, erwiderte Colin höflich und verzog seinen geschwungenen Mund zu einem charmanten Lächeln. Dann gab er ihre Hand frei. Sie respektierten sich tatsächlich. Ob ich es gut fand oder eher nicht, musste ich mir noch überlegen, aber für das Erste war es besser als weitere Streitereien.
»Wenn sie sich schon auf den Weg gemacht hätte …« Gianna musste Luft holen und strich sich unwillkürlich über ihre Hand, auf der sich eine feine Gänsehaut gebildet hatte. »Tillmann hat uns eben gesagt, dass er … im äußersten Notfall gewappnet wäre. Wir könnten es also riskieren.« Weil sie Colins warnenden Blick sah und meinen empörten dazu – denn ich konnte nicht verstehen, wieso Tillmann Gianna und Paul Bescheid gab, aber nicht mir –, sprach sie schnell weiter. »Ich dachte, wir könnten vielleicht heute Abend in Calopezzati etwas essen gehen, oben in den Bergen. Alle zusammen, meine ich.« Sie setzte sich neben uns ins Stroh, schaute jedoch immer wieder zu Louis hinüber.
»Oh, ich bin kein guter Esser«, bemerkte Colin lakonisch.
»Aber was war mit dem Kirschkuchen?« Gianna sah ihn fragend an. »Du hast Kirschkuchen gegessen! Ich hab es gesehen! Du hast deinen Bissen runtergeschluckt.«
»Ich wollte eure Mutter beeindrucken.«
Ich musste grinsen, weil Colins Tonfall und seine Worte gegensätzlicher nicht hätten sein können, aber Giannas Züge wurden weich und verletzlich.
»Eure Mutter«, sprach sie ihm leise nach. Jetzt erst begriff ich, was Colin gesagt hatte. Stimmt, eigentlich war Mama nur Pauls und meine Mutter, nicht Giannas. Er hatte sie in einem Satz auch zu ihrer Mutter erklärt. Konnte er in ihre Seele blicken wie in meine? Spürte er, dass sie zu ihrer Mutter ein schlechtes Verhältnis hatte – falls überhaupt?
»Ich reite mit Louis sowieso gleich hinauf in die Berge, er braucht Bewegung und ich muss jagen«, erklärte Colin wie nebenbei. »Wir können uns gerne heute Abend dort oben treffen. Gegen 21 Uhr?«
Gianna nickte eilig. Ich schloss mich ihr verdattert an. So leicht war es, Colin zum gemeinsamen Essen zu überreden?
»Dann geht ins Haus und schlaft noch ein bisschen. Ihr habt nichts zu befürchten, ich bin in fünf Minuten fort. Und wir beide …«, er zog mich am Ohrläppchen zu sich und biss mir sacht in die Lippen, obwohl seine Stimme vor Ironie troff, »haben heute Abend unser erstes Candle-Light-Dinner.«
FERTILITÄTSTHEORIEN
»Was ist mit ihr? Ellie, sag was, bitte! Oh Gott, Paul, sie wird doch nicht …«
Gianna streckte die Hand nach mir aus. Gleich würde sie mich anfassen. Nicht, dachte ich. Tu es nicht. Du wirst es bereuen.
Im letzten Moment zog sie den Arm zurück. Meine Lider gehorchten mir noch nicht, aber ich sah Giannas Umrisse. Sie zeichneten sich wie durch eine Wärmekamera vor meinen geschlossenen Augen ab. Ihre Wangen waren heiß vor Schreck. Violett.
»Sie atmet, ganz sacht, aber sie atmet, regelmäßig sogar«, stellte Paul fest. »Ich verstehe nicht … Ellie? Ellie, hörst du uns?«
Nun konnte ich blinzeln, wenn auch nur wie in Zeitlupe. Meine Linsen stellten sich scharf, sobald mein Lid nach oben wanderte, und verloren sofort ihren Sehwillen, wenn ich es wieder schloss. Was ich in mir selbst sah, war ohnehin verlockender als die Wirklichkeit. Ich wollte es bewahren, für einige Minuten noch. Ich nahm merkwürdig versöhnlich hin, dass ich mich nicht bewegen konnte. Mein Körper war starr wie ein Brett.
Schon seit Minuten war ich wach, anfangs hatte ich meine Traumbilder noch wie einen Film betrachtet, dessen Geschehen ich nicht beeinflussen konnte, dann waren sie verblasst, doch das berauschende Gefühl, das sie in mir ausgelöst hatten, würde erst
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