Dornenliebe
zu können, Luna öffnet jeden Schrank, sieht im Bad nach, späht durch den Türspion, kann Falk nirgends entdecken. Atemlos setzt sie sich erneut an den Schreibtisch, vermeidet es, mit ihren Fingern Falks Spuren zu berühren, schaltet den Computer ein, lässt das System hochfahren, das Display erhellt das Zimmer ein wenig zusätzlich, gleich wird das Hintergrundbild erscheinen, an das ist sie gewöhnt, es bietet ein Stück elektronisches Zuhause, wo immer sie ist.
Doch statt des gewohnten Bildes, einem Sonnenaufgang am Meer, bleibt der Bildschirm schwarz, nein doch nicht, ein verdrehter Buchstabe schwirrt über die dunkle Fläche wie ein Raumschiff, ehe er in der Mitte stehen bleibt, nach links rückt, dann folgt ein weiterer, Luna starrt darauf, sieht zu, wie sich Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort zusammensetzen, das hat sie nicht eingerichtet, Falk war das, Falk. Nach wenigen Minuten ist der Satz vollständig, in großen neongrünen Buchstaben prangt er auf ihrem Display:
Ich weiß, wo du warst!
Luna sitzt wie erstarrt, kann ihren Blick nicht lösen. Sie spürt Falks Augen überall, im Nacken, im Gesicht, von der Seite. Die Buchstaben lösen sich auf, beginnen ihren Tanz von Neuem, wieder setzt sich Wort für Wort zusammen, Luna verharrt unbeweglich, kann nicht anders, kann es nicht begreifen, Falk ist da, ist aber nicht bei ihr wie jemand, der sie liebt, ist bei ihr wie ein Wächter, ein Aufseher, jederzeit bereit, zu richten und zu strafen.
Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als Luna schließlich doch die Maus in die Hand nimmt, sich mit dem Internet verbindet und ihr Mailprogramm aufruft. Ihr Postfach meldet neun neue Nachrichten, Luna sieht gleich, dass sie alle von Falk sind, von ihren Eltern ist keine dabei. Neun Nachrichten mit einander ähnelnden Betreffzeilen:
Ich habe dich gesehen.
Du bleibst bei mir.
Du kannst nichts heimlich tun.
Ich finde dich, wo immer du bist.
Du ahnst nicht, was ich von dir weiß.
Niemand nähert sich dir ungestraft.
Ich sehe dich, wenn du mit anderen Männern sprichst.
Meine Augen verfolgen dich.
Ich wache über dich, egal was du treibst.
Die Mails dazu sind leer, kein Wort erklärt ihr etwas, kein versöhnlicher Satz lässt sie aufatmen, stattdessen schließt sich ein beklemmender Ring um ihre Brust, nimmt ihr die Luft, macht sie unfähig, etwas zu tun. Das ist nicht mehr normal, das kann er nicht ernst meinen, wie ist er nur hereingekommen, er muss sich heimlich ein Duplikat von ihrem Hausschlüssel anfertigen lassen haben! Luna versucht, nicht daran zu denken, dass er hier war, ohne ihr etwas davon zu sagen; dass er heimlich hier war, um ihren Computer zu manipulieren, wer weiß, was er noch alles gemacht hat. Ausgerechnet heute, wo sie so lange mit Jaron gesprochen hat, allein, er muss sie gesehen haben, sie sind leichtsinnig gewesen, als sie auf dem Heizkörper vor der verglasten Wand sitzen geblieben sind, jeder hat sie dort sehen können. Vielleicht wollte Falk sie abholen und hat beobachtet, wie Jaron sie berührt
hat, hat zugehört, als Jaron ihr gestand, sie ginge ihm nicht aus dem Kopf. Vielleicht hat er alles belauscht, auch das, was Jaron über ihn geäußert hat, womöglich hat er den Kuss beobachtet, auch wenn es nur ein kleiner Kuss unter guten Freunden war. Luna versucht, diesen Gedanken auszublenden, versucht, so zu tun, als wäre das alles nicht passiert, scrollt mit der Maus weiter durch ihre Mails, es sind nur ältere darunter, nein doch nicht: Als sie ihren Spamordner öffnet, findet sie darin eine Nachricht ihrer Mutter, die gestern eingegangen ist, sie öffnet sie, überfliegt, was darin steht, viel ist es nicht, die üblichen Fragen nach der Gesundheit und dem Vorankommen im Studium; zu Hause sei alles beim Alten, letzte Woche habe sie Thores Grab winterfest gemacht.
Die Eltern als Spam, auch das hat es noch nicht gegeben, natürlich gehören sie in den Posteingang vertrauter Absender. Luna forscht weiter und öffnet ihr Adressbuch - alle gespeicherten Mailadressen sind gelöscht, sie kann niemandem schreiben, dessen Adresse sie nicht im Kopf hat, von wem hat sie das schon? Wenn sie den Namen weiß, fehlt ihr der Anbieter. In ihren Dateien hat sie ein paar Mails gespeichert, Beileidsbriefe nach Thores Tod, hier könnten noch einige Mailadressen ihrer Freunde stehen, doch auch die sind gelöscht, alles ist weg, der virtuelle Papierkorb geleert, nur Falks eigene Adresse prangt majestätisch in ihrem Adressbuch, außer ihm
Weitere Kostenlose Bücher