Dornenliebe
kriecht unter ihre Jacke, Falk scheint die Kälte überhaupt nichts auszumachen, er trägt eine schwarze weiche Lederjacke, die innen mit Lammfell gefüttert ist.
»Jetzt sind wir die Größten«, scherzt er und steht auf, verlagert sein Gewicht mal auf das eine, dann das andere Bein, bis die Gondel zu schwanken beginnt, er hält sich nicht einmal an der Mittelstange fest, will Luna an der Hand hochziehen, sie jedoch krallt eine Hand noch immer um das Geländer, die andere um den Riemen ihrer Tasche.
»Hör auf, Falk«, bittet sie, bemüht, ihre Stimme gelassen klingen zu lassen. »Mir wird schwindlig dabei, wirklich. Tu mir den Gefallen und lass das sein.«
»Hast du Angst?« fragt er, lacht laut auf und verstärkt seine Bewegung, jetzt muss er sich doch an der Stange festhalten, um nicht zu stürzen. Warum tut er das, denkt Luna, er weiß doch, was eine solche Höhe für mich bedeutet, die schlimmen Erinnerungen. Aber Falk setzt sich jetzt wieder neben sie, und noch ehe Luna Erleichterung darüber empfinden kann, fängt er an, die Gondel zu drehen,
nicht mal als Kind hat Luna das gemocht, auch Karussells hat sie immer gemieden, weil ihr so schnell unangenehm schwindlig wurde. Das Schwanken dauert fort und verstärkt Lunas Unbehagen, erneut bittet sie Falk aufzuhören, die Gondel fährt jetzt abwärts, hält unten nicht mehr an, da sie voll besetzt ist, viel zu schnell ist sie wieder oben, Luna schreit inzwischen, aus einer der Nachbargondeln hört sie jemanden schimpfen, es wäre lebensgefährlich, was der junge Mann da treibe. Falk jedoch tut, als höre er nichts.
»Vertraust du mir nicht?«, ruft er Luna zu, »Du weißt doch, dass ich dich nie gefährden würde! Stell dich nicht so an, ein Riesenrad ist kein Ohrensessel!«
»Ich kann das nicht, Falk, mir wird schlecht, hör auf!« Luna versucht, Falks Hände wegzureißen, sie erkennt die Umgebung nicht mehr, spürt nicht mehr, ob die Gondel gerade oben oder unten ist, alles dreht sich, die Stadt, der Himmel, die bunten Lichter unten fliegen an ihr vorbei, ihr Magen rebelliert, sie zittert. Falk reagiert nicht, er dreht und dreht, lacht immer lauter, schafft es schließlich doch, Luna zum Stehen hochzuziehen, schiebt sie gegen das Geländer und drückt sie nach vorn.
»Siehst du, wie klein alles ist?«, fragt er. »Siehst du das, Luna? Alles dort unten ist ganz und gar bedeutungslos. Wir beide hier oben, das ist das Leben. Nur du und ich.«
»Lass mich los, Falk.« Luna versucht, sich aus seinem Griff zu befreien, aus seiner Hand, die in ihrem Nacken liegt wie in dem einer Katze, die gleich am Fell hochgehoben werden soll. »Lass mich los, ich kann nicht nach unten sehen, ich habe Angst.«
Falk stößt ihren Kopf noch einmal leicht nach vorn, dann lässt er sie los, Luna sinkt in den Sitz zurück und betet, es möge bald vorbei sein, bald, schnell. Irgendwo unten schmettert eine Musikanlage alte weihnachtliche
Schlager, Luna versucht, sich innerlich an dem Text festzuklammern, sie schließt die Augen, ein Lied dauert vielleicht drei Minuten, viel länger wird auch das Riesenrad nicht mehr fahren.
Tatsächlich merkt sie kurz darauf, dass sich die Fahrt verlangsamt, einmal geht es noch bis ganz nach oben, dann werden die Gondeln am Boden gestoppt, damit die Fahrgäste aussteigen können. Nur raus hier, denkt Luna; fort von hier, sie hat Angst, sich übergeben zu müssen, will das nicht vor Falk. Als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürt, scheint sich noch immer alles um sie zu drehen, doch sie widersteht dem Impuls, sich an Falk zu lehnen, sie weiß, dass er sie nicht halten, sondern nur umklammern würde, wer weiß, was er sich noch einfallen lässt, sie will weg. Im Gedränge nimmt sie plötzlich eine Lücke in einer kleinen Menschentraube vor einem Imbissstand wahr, Falk ist einen Moment lang unaufmerksam, sein Handy klingelt, sicher ein Kunde. Während er es aus der Hosentasche zieht und auf das Display sieht, schiebt sie sich an den Leuten vorbei und vergewissert sich, dass sich die Lücke hinter ihr wieder schließt, dann rennt sie los, schlängelt sich zwischen den Ständen weiter, kommt nur langsam voran, weil es überall eng ist, wagt nicht zurückzuschauen, Falk wird längst gemerkt haben, dass Luna nicht mehr neben ihm geht. Erst als sie sich sicher ist, dass er sie aus den Augen verloren haben muss, wagt sie es, das Weihnachtsmarktgelände zu verlassen, stürmt weiter, die Winterluft sticht in ihrer Lunge, das Lebkuchenherz
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