Dornenliebe
ein, es erscheint Luna wie eine Ewigkeit, bis die automatischen Türen mit einem Zischen aufspringen und sie hineinhechten kann; fahr doch, betet sie stumm, fahr doch endlich los, nur weg von hier. Sie hat einen Sitzplatz gefunden und lehnt sich tief nach hinten, damit Falk sie nicht auf den ersten Blick sehen kann, falls er das eben war, falls er jetzt gleich auf den Bahnsteig gestürmt kommt. Dann der Signalton zum Schließen der Türen, der Ruck, der den Zug in Bewegung setzt, zunächst langsam und keuchend, dann schneller. Eintauchen in den Tunnel, fort von hier. Erst ganz allmählich wird sie innerlich ruhiger. Im Waggon ist es warm, allmählich hört sie auf zu zittern, Falk ist ihr nicht gefolgt oder er hat sie nicht gefunden. Von den anderen Fahrgästen
scheint niemand besondere Notiz von ihr zu nehmen.
Nachdem der Zug einige Stationen hinter sich gelassen hat, überlegt Luna, wo sie hinfahren kann. Zu Jaron? Das Haus würde sie sicher wiederfinden, Warschauer Straße, er hat gesagt, ein paar Häuser weiter wäre ein Gebäudekomplex mit mehreren Hinterhöfen, in dem sich ein Musikgeschäft, ein Studio und Proberäume für Bands befänden. Aber bei Jaron kann sie auf Johannes treffen, der Falk näher steht als ihr. Also doch besser zu Sarah? Noch ist es Vormittag, wahrscheinlich sind alle in der Uni, dort kann sie nicht hin, weil Falk sie dort als Erstes vermuten würde. Luna sieht ihn vor sich, wie er über das Gelände jagt, Gänge durchforstet, die Türen der Hörsäle aufreißt, um nach ihr zu suchen, Leute in der Mensa nach ihr ausfragt. Es geht nicht.
Inzwischen ist der Hunger übermächtig, in der Eile hat sie kein Geld mitgenommen, nicht einmal an Falks übrig gebliebene Brötchen gedacht, die sie ohne Schwierigkeiten hätte schnappen können. Jaron. Vielleicht arbeitet er heute; manchmal schwänzt er die Vorlesungen für seinen Job, hat er erzählt, Luna schickt Stoßgebete zum Himmel, dies möge heute der Fall sein. Wilmersdorfer Straße, das war die U-Bahn-Station, Luna studiert den im Waggon hängenden Plan und stellt fest, dass sie ganz in der Nähe ist, steigt an der nächsten Station aus, den Rest kann sie zu Fuß gehen, dann muss sie nicht umsteigen, schließlich fährt sie gerade schwarz. Unter einem Zigarettenautomaten findet sie eine Euromünze, die jemand verloren hat. In einer Bäckerei kauft sie ein Stück Kuchen vom Vortag und muss sich zwingen, es nicht so hastig herunterzuschlingen, dass ihr Magen rebelliert, sie zwingt sich, langsam zu kauen, jeden Bissen zu genießen, jedes Fruchtstück, jeden Streusel im Mund zergehen zu lassen, als
wäre es der Letzte in ihrem Leben. Danach erscheint es ihr, als hätte sie sich nie besser gefühlt. Sie beginnt zu laufen, um die Kälte weniger zu spüren, ab und zu dreht sie sich um, vergewissert sich, nicht verfolgt zu werden, auch auf der vor ihr liegenden Fußgängerzone versichert sie sich immer wieder, dass keiner von den Menschen, die ihr entgegenkommen, Falk ist.
Vor dem Geschenkeladen blickt sie sich noch einmal um, ehe sie eintritt, ihr Herz beginnt zu wummern, vor Angst und auch vor Aufregung, ihn vielleicht gleich wiederzusehen, seine sanften Augen, die dunkelblonden weichen Locken, sein Mund, aus dem sie noch nie ein verletzendes Wort gehört hat. Sie entdeckt ihn nicht gleich, will wieder gehen, weil sie merkt, dass andere Kunden sie befremdet mustern, wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Monster, denkt sie. Im nächsten Augenblick jedoch schiebt sich Jaron durch eine schmale Tür am hinteren Ende des Ladens, einen Karton mit Kerzenhaltern auf den Armen. Er erblickt sie sofort.
»Luna«, stößt er hervor. Stellt den Karton neben seinen Füßen ab, nimmt ihr Gesicht in beide Hände und küsst sie hungrig, lässt jedoch gleich wieder von ihr ab, greift nach ihrer Hand und zieht sie durch die Tür, aus der er gerade gekommen ist, ohne sich um die Ware oder die Kundschaft zu kümmern, schlingt beide Arme um sie und küsst sie erneut, als habe er sich jahrelang nach ihr gesehnt. Erst dann nimmt er einen dicken Kapuzenpullover von einem Stuhl und reicht ihn Luna, die ihn sofort anzieht. Sie erschauert vor Wonne über die plötzliche Wärme an ihrem Körper und drängt sich an ihn, ist so froh, ihn zu sehen, zu spüren, so froh.
»Ich gehe nicht mehr zurück«, sagt sie.
16.
S ie stehen lange so da, eng umschlungen, den Herzschlag des anderen an der eigenen Brust spürend. Ich bin angekommen, denkt Luna; ich bin zu Hause. Ich muss mich
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