Dornenschwestern (German Edition)
großen Anstrengungen vergessen will, dass vor diesem König und dieser Königin andere herrschten, dass es vor diesem kleinen Jungen, der die Königin überallhin begleitet, einen anderen Prinz Edward gab, dass je eine Invasion, ein Marsch und eine Schlacht stattgefunden haben. Elizabeth, die Königin, sieht mich mit ihren schönen grauen Augen ruhig an, die wie dunkles Eis schimmern. Sie vergisst nicht, dass mein Vater ihren Vater ermordet hat, mein Vater ihren Bruder ermordet hat. Blutschuld, die eines Tages beglichen werden muss.
Ich besteige mein Pferd, schüttele mein Kleid aus und fasse die Zügel. Ich beschäftige mich mit der Gerte und streiche die Mähne meines Pferds zu einer Seite. Ich zögere den Augenblick hinaus, da ich mich nach Richard umsehe.
Er ist bei seinem Bruder. Er ist immer an seiner Seite – ich habe längst begriffen, dass sich an der Liebe und Treue zwischen den beiden nie etwas ändert.
Als er meinem Blick begegnet, strahlt er mich an, sein dunkles Gesicht leuchtet vor Zuneigung. Wer sich die Mühe macht, ihn anzusehen, muss es bemerken, er ist hoffnungslos unvorsichtig. Er legt die Hand aufs Herz, als wollte er mir seine Treue schwören. Ich schaue nach links und nach rechts, und Gott sei Dank hat niemand etwas bemerkt. Sie sind alle mit Aufsitzen beschäftigt, und George, der Herzog, ruft nach der Wache. Unbekümmert steht Richard da, die Hand auf dem Herzen, und sieht mich an, als wollte er die Welt wissen lassen, dass er mich liebt.
Er liebt mich.
Ich schüttele den Kopf, wie um ihn zu rügen, und senke die Augen auf meine Hände. Als ich wieder aufschaue, ist sein Blick immer noch auf mich gerichtet, die Hand immer noch auf dem Herzen. Ich weiß, dass ich wegsehen, so tun sollte, als empfände ich nichts als Geringschätzung – so verhalten sich die Damen in der Dichtung der Troubadoure. Doch ich bin ein Mädchen, und ich bin so einsam, und er ist ein gutaussehender junger Mann, der sich erboten hat, mir zu dienen, und der jetzt vor mir steht, die Hand auf dem Herzen, und mich mit lachenden Augen ansieht.
Einer der Wachmänner stolpert, als er aufsitzen will, und sein Pferd scheut und wirft den daneben stehenden Reiter um. Alle richten den Blick auf ihn, und der König legt den Arm um seine Frau. Ich ziehe einen Handschuh aus und werfe ihn in einer raschen Bewegung Richard zu. Er fängt ihn in der Luft auf und steckt ihn in die Innenseite seiner Jacke. Niemand hat es bemerkt. Der Wachmann beruhigt sein Pferd, sitzt auf und nickt seinem Hauptmann entschuldigend zu. Die königliche Familie wendet sich um und winkt uns.
Richard sieht mich an, knöpft seine Jacke zu und schenkt mir ein warmes, beruhigendes Lächeln. Er hat meinen Handschuh, er besitzt meine Gunst. Ein Versprechen, das ich ihm im vollen Bewusstsein gegeben habe. Denn ich will nicht mehr irgendjemandes Schachfigur sein. Den nächsten Zug will ich ausführen. Ich werde meine Freiheit wählen, genau wie meinen Gemahl.
L’Erber, London
Februar 1472
G eorge, der Herzog, und Isabel, seine Herzogin, leben in großem Prunk in London. Ihr Haus gleicht einem prächtigen Palast, mit Hunderten von Dienern; Georges Wache trägt eine eigene Livree. Er brüstet sich mit seiner Großzügigkeit, und wie bei meinem Vater darf jeder, der sich zur Essenszeit an der Küchentür meldet, mit seinem Dolch ein paar Stücke Fleisch aufspießen. Ein unablässiger Strom von Bittstellern und Pächtern, die um Gefälligkeiten bitten und Hilfe ersuchen, findet den Weg zu Georges Audienzzimmer, dessen Tür immer offen steht, denn er weist niemanden ab, nicht einmal den ärmsten Pächter auf seinen Ländereien. Jeder soll wissen, dass George ein guter Lehnsherr ist, solange er ihm nur die Treue schwört. Also betrachten Dutzende, ja, Hunderte von Menschen, die ihm sonst gleichgültig gegenüberstünden, George als guten Lord, als wahren Verbündeten an ihrer Seite, als einen Menschen, den sie gern zum Freund hätten. Georges Macht und Einfluss nehmen immer mehr zu, wie ein Fluss, der über die Ufer tritt.
Isabel präsentiert sich als große Dame, führt die Prozession in ihre Kapelle an, verteilt Almosen an die Armen, verwendet sich für Georges Barmherzigkeit, wo immer sie öffentlich Gutes tun kann. Ich folge ihr, denn ich bin einer der vielen Empfänger ihrer demonstrativen Wohltätigkeit, und von Zeit zu Zeit bemerkt jemand, wie freundlich es von meiner Schwester und meinem Schwager sei, mich aufzunehmen, obwohl ich in Ungnade gefallen
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