Dornentöchter
Ruthie und Pearl ziemlich viel stritten. Pearl konnte mitunter etwas nervtötend sein, denn sie rannte immer zu Dad, um sich zu beschweren, der dann den Riemen herausholte. Einmal schlug er mich so sehr, dass ich ohnmächtig wurde.
Pearly war als Kind hübsch anzuschauen, aber noch lange nicht die Schönheit, zu der sie später heranwuchs. Ich glaube, Dad empfand es als schwierig, als sie älter wurde. Männer jeden Alters kamen plötzlich von überall her. Dad benahm sich wie ein eifersüchtiger Liebhaber und vertrieb einen von ihnen nachts sogar mal mit dem Schrotgewehr. Ich glaube, er liebte Pearl ein bisschen zu sehr. Letzten Endes verjagte er sie durch seine feste Umklammerung.
Als sie mit fünfzehn davonlief, brachte ihn das fast um. Sie war eine egoistische Kuh, Dad das anzutun, wo er sie doch all die Jahre so gut behandelt hatte. Nachdem sie abgehauen war, saß Dad nur noch in seinem Zimmer und trank. Er ging nicht mehr zur Rennbahn und auch nicht mehr in seine alten Kneipen. Er wurde immer dünner und benahm sich wie ein Greis. Ich glaube, seine Birne wurde damals schon langsam weich – er rief nachts immer nach Pearly und machte ins Bett wie ein Zweijähriger. Ruthie musste sich die meiste Zeit um ihn kümmern, und sie hat es gehasst. Schließlich wollte er nicht sie. Aber Pearly kam nie zu ihm. Sie führte ihr neues Leben weiter und blickte nicht zurück.
Im Winter 1922 bekam Dad eine Lungenentzündung. Das gab ihm den Rest. Wir versuchten Pearly zu überreden, ihn am Sterbebett zu besuchen, doch sie weigerte sich zu kommen. »Soll er doch in der Hölle schmoren«, schrieb sie in dem einzigen Brief, den ich je von ihr bekommen habe. Ich habe ihn beigelegt.
Wahrscheinlich habe ich Sie jetzt genug gelangweilt, Miss Birdie, mit dieser ganzen Familiengeschichte. Ich hoffe sehr, dass mein unzusammenhängendes Geschreibsel Ihnen irgendwie weiterhelfen konnte, hübsches Fräulein. Sollten Sie je in die Nähe des Bellerive Pflegeheims kommen, würde ich mich über einen Besuch sehr freuen. Seit meine Frau gestorben ist, ist es hier ziemlich still geworden, denn uns waren keine Kinder vergönnt. Wenn man jedoch auf meine Familiengeschichte zurückblickt, hatte das vermutlich auch sein Gutes. Schließlich kann ein fauliger Baum nur faulige Früchte hervorbringen.
Viel Glück, Miss Birdie. Und vielen Dank noch mal für die Blumen. Ich wünsche Ihnen mit Ihrem Buch allen erdenklichen Erfolg. Pearl wäre hocherfreut zu wissen, dass sie durch Ihre Worte weiterlebt.
Mit freundlichen Grüßen,
Benjamin Whistler
Anlage:
Hallo Benjamin,
tut mir leid zu hören, dass harte Zeiten hinter Euch liegen, alter Junge, aber bei mir läuft’s auch nicht gerade rund. Ich weiß, Ruthie und Du, Ihr denkt, man kann mich jederzeit anpumpen, aber hier regiert auch der Pleitegeier. Tut mir leid, das mit Vater zu hören, aber das muss er wohl ertragen, nicht wahr? Nach dem, wie er mich und unsere Mutter behandelt hat, kann er meinetwegen in der Hölle schmoren. Ich werde sicher nicht Geld für eine Bahnfahrkarte dafür verschwenden, ihn zu besuchen.
Bitte schreib mir nicht mehr wegen Vater. Ich habe kein Interesse daran, zu erfahren, wann er dann tatsächlich stirbt. Für mich ist er schon vor langer Zeit gestorben.
Deine Schwester,
Pearl
Launceston, 1922
Einige Monate später gelang es mir mit Maxwells Hilfe, Ruthie aufzuspüren, die damals in Brisbane lebte. Ihre Antwort war wesentlich weniger ausführlich als die ihres Bruders.
November 1946
Sehr geehrte Miss Pinkerton,
haben Sie vielen Dank für die Nachricht bezüglich meiner verstorbenen Schwester, Pearl. Welch schreckliche Art zu sterben, nicht wahr? Die Zeitungsberichte waren fürchterlich. Der Mangel an guten Manieren heutzutage und Respekt anderen Menschen gegenüber ist wirklich erschreckend. Ich kann Ihnen wenig sagen, was Ihnen für Ihr Buch nützen könnte. Ich sehe keinen Sinn darin, irgendetwas über Pearl zu schreiben. Ihr grausamer Tod war vermutlich der interessanteste Augenblick ihres Lebens. Sie hatte mit ihrer Schreiberei sehr wenig Erfolg, auch wenn sie selbst das Gegenteil behauptet hat. Die Zeitungen mochten sie wegen ihres Aussehens, nicht wegen ihres Talents.
Auch wenn wir uns als Kinder ein Zimmer teilten, kenne ich die Frau, die Ihnen als Pearl Tatlow bekannt ist, nicht. Sie war ein ganz gewöhnliches Kind, das viel Zeit mit Tagträumereien verbrachte. Als sie noch jünger war, litt sie unter Alpträumen. Sie war in der Schule nicht
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