Dornentöchter
eindeutig hervor, dass Birdie auf ihre Freundin eifersüchtig gewesen war. Da wäre es ein Leichtes für sie gewesen, eine Biographie zu schreiben, in der sie Pearls Ruf schädigte und ihre eigene Sicht auf die Ereignisse propagierte.
»Wo wir gerade vom Teufel sprechen«, stellte Maria fest. »Da ist sie, führt diesen kläffenden Dash spazieren.«
Vom warmen Café aus beobachtete das Trio, wie Birdie, ein Tuch um den Kopf geschlungen, energischen Schrittes vorbeiging. Sie ist so rüstig für ihr Alter, dachte Sadie. Da wäre sie vor siebzig Jahren sicher in der Lage gewesen, Pearl in einem Zweikampf zu überwältigen. Vor allem, wenn sie die andere Frau im dunklen Keller überrascht hatte …
Dann fiel Sadie ein weiteres Detail des Verbrechens ein, und sie verwarf ihre düsteren Spekulationen über die alte Dame rasch. »Ihr dürft nicht vergessen, dass meine Großmutter auch vergewaltigt wurde«, sagte sie. »Das würde eher auf einen Mann hindeuten.«
»Wurde sie das?« Gracie nippte an ihrer heißen Schokolade. »In Die Netzespinnerin steht nur was von sexuellem Missbrauch oder irgend so ein Kauderwelsch-Begriff. Wurde sie tatsächlich penetriert? Wisst ihr was, nach der ganzen Aufregung jetzt bin ich echt hungrig. Ich glaube, ich nehme noch eins von den Scones.«
Dann ist sie also cleverer, als es scheint. Sadie sah zu, wie Gracie das Gebäckstück mit Butter, Marmelade und Schlagsahne verschlang.
»Guten Tag, die Damen.« Als Sadie aufschaute, erblickte sie zu ihrer Überraschung Gary, den Zahnarzt, in einer schwarzen Lederjacke. Er steuerte auf einen Tisch in der Ecke zu und wurde von einer jungen Frau mit langen dunklen Haaren begleitet. Sie trug einen Minirock mit Leopardenmuster, schwarze Stiefel und ein enges schwarzes T-Shirt. Seine Tochter? Hoffentlich. Aber wer in Pencubitt zog sich so an?
Maria beobachtete amüsiert Sadies Gesicht. »Der ist ein ganz schöner Leckerbissen, nicht wahr? Leider weiß er das auch. Er könnte jede Frau auf der Insel haben. Das da ist seine neueste Eroberung. Kristie vom Schönheitssalon.« Ihr trockener Tonfall offenbarte ihre Meinung über das Mädchen.
Gracie gab einen leisen Laut von sich. Entsetzt stellten die anderen beiden Frauen fest, dass sie weinte. »Gracie? Was zum Henker?!« Maria wirkte total schockiert.
»Ach, beachtet mich einfach gar nicht. Ich bin bloß eine dumme alte Frau. Ich hatte gehofft. Ich dachte …, aber ich weiß, es ist Unsinn. Ich dummes, dummes Ding. Ich dachte, er würde … Aber doch nicht mit ihr – gerade mal achtzehn und so angezogen.« Sie zeigte auf Kristie. Sadie hätte sich am liebsten unterm Tisch verkrochen, als Gary nun zu ihnen herübersah. Offensichtlich hatte ihn das Schauspiel neugierig gemacht. Gracie tupfte sich mit der Serviette die Augen. »Ich bin alt, fett und hässlich!«, heulte sie.
»Gracie! Reiß dich zusammen – er schaut her!«, zischte Maria. »Erstens bist du nicht alt – und selbst wenn, wen interessiert das schon? Besser alt als tot! Birdie Pinkerton ist alt, und sie hat mehr Energie als die meisten jungen Leute in dieser Stadt, die überall mit dem Auto hinfahren! Du bist nicht hässlich. Du hast ein sehr hübsches Gesicht und ganz tolle Haut. Kaum eine Falte. Du bist … nun ja, du bist nicht schlank, das stimmt, aber du kannst daran arbeiten, straffer zu werden. Mach dir doch wegen Mr Filmstar-Wichtigtuer-Zahnarzt keinen Kopf!«
»Das Einzige, was ich tue, ist Häuser kaufen. Ich weiß, dass ich das Gespött der ganzen Stadt bin!«, jammerte Gracie. »Selbst meine eigenen Kinder halten sich von mir fern, dabei war ich so eine wunderbare Mutter!« Sie fing an laut zu schluchzen, woraufhin die Angestellten besorgt hinter der Theke hervorspähten.
»Mach dir nicht so viele Gedanken, Gracie«, hörte Sadie sich sagen, so sehr berührte sie der verzweifelte Hilferuf ihrer Freundin. Warum um alles in der Welt kamen ihre undankbaren Kinder sie nicht besuchen? Gracie mochte exzentrisch sein, aber sie war immerhin ihre Mutter. Sie dachte an Thomasina, die in ihrem winzigen Haus herumschlurfte und immer noch ihren Groll auf eine Frau hegte, die bereits so viele Jahre tot war. »Wie wär’s, wenn ihr beide mit zu mir kommt, sobald wir hier fertig sind, und dann erkunden wir den Keller vom Poet’s? Vielleicht findest du ja ein paar Hinweise!«
Der Trick funktionierte. Gracies Miene hellte sich auf. »Oh, Sadie, das wäre toll! Ich habe immer das Gefühl, erst richtig mit jemandem befreundet zu
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