Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Abendnachrichten berichteten sie, dass nach zwei Frauen gesucht wurde, nach der jungen Dunkelharigen und der älteren Blondine.
Ich schlief unruhig und träumte von einer Frau, der ich einmal begegnet war. Von einer Frau, die Solveig Manger hieß. Aus irgendeinem Grund war sie im Stil der Zwanzigerjahre gekleidet. Sie trug ein kurzes, schwarzes Kleid aus einem glänzenden Material, ein Diadem im Haar, das kurz geschnitten und zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt war, und viele lange Ketten um den Hals. Es war ein beunruhigender Traum, denn er ließ mich hinterher noch wach liegen und an sie denken.
Der Morgen kam brüsk und unbarmherzig und es gab keine Gnade. Man musste aufstehen.
Es war ein grauer Morgen. Die Wolkendecke hing tief über den Bergen, der Fjord lag da wie geronnener Teer. Ich machte ein paar vorsichtige Yoga-Übungen, rasierte mich, aß ein stilles Frühstück, während ich mir im Radio die Kinderstunde für die Kleinsten anhörte, und fuhr dann ins Büro.
Ich ging die Post durch, zwei Reklamesendungen und eine Rechnung. Danach saß ich da und starrte aus dem Fenster.
Ich mag die erste Vormittagsstunde, zwischen neun und zehn. Die meisten Menschen sind an ihrem Arbeitsplatz, und es ist noch immer morgendlich still in der Stadt. Die fleißigsten Hausfrauen machen schon ihre Einkäufe, aber die meisten kommen nicht vor zehn, halb elf. Rentner und Arbeitslose sind schon unterwegs. Sie haben noch Zeit, am Geländer unten am Ende von Vågen stehen zu bleiben, die Unterarme darauf zu lehnen, nachdenklich über das Wasser zu schauen, hineinzuspucken und zu sagen: »Na, ob es heute wohl Regen gibt?« Und manche hatten vielleicht sogar Zeit für eine Antwort.
An Bryggen entlang war das Ent- und Beladen schon im Gange, und draußen in Dreggen … Draußen in Dreggen liegt ein rotes Backsteinhaus, in dem eine Frau arbeitet. Eine Frau, die sich sicherlich normalerweise nicht im Stil der Zwanzigerjahre kleidet, was ihr in meinem Traum gut gestanden hatte.
In meinem Büro ist es still. Keiner stört Veum, den Denker. Das Telefon ist stumm. Oben an der Decke beginnt an einigen Stellen die Farbe abzublättern. Vielleicht sollte ich bald einmal renovieren, ein paar Dosen Farbe kaufen und die Farben ein wenig auffrischen. Die Wände grün malen statt beige. Ein paar Bilder aufhängen. Die Gardinen austauschen und welche mit Muster kaufen.
Gegen zehn Uhr schien es mir an der Zeit, bei Werners anzurufen. Håkon Werner nahm selbst ab. Ich nannte meinen Namen und fragte, ob es ihm passte, wenn ich jetzt vorbeischaute. Warum nicht. Mehr als ein »Warum nicht« konnte man an Tagen wie diesem nicht erwarten. Ich bedankte mich und wir legten auf.
Håkon Werner öffnete mir die Tür. Er trug eine Hose und ein Hemd, aber darüber einen Morgenmantel aus Frottee. Er führte mich in dasselbe dunkle Wohnzimmer wie beim letzten Mal und sagte leise: »Meine Frau ist noch nicht aufgestanden. Ich habe sie schlafen lassen. Sie – wir haben heute Nacht beide nicht so gut geschlafen.« Sein Gesicht wirkte erschöpft und seine Stimme angestrengt.
Ich nahm auf einem der Sessel Platz und sah mich um. Zwei Tage zuvor hatte er mir das Foto seines Sohnes gegeben. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Auf dem Tisch zwischen uns stand ein Küchentablett mit einer Tasse und einem Teller. Auf dem Teller lagen noch Ei- und Brotkrümel. In der Tasse war ein Rest Kaffee. Håkon Werner schob das Tablett zur Seite, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, sah mich müde an und kam sofort zur Sache: »Nun?«
Ich sagte: »Ich habe gar nicht so viel zu erzählen. Viel habe ich nicht herausgefunden, in der kurzen Zeit. Die Hauptsache war ja, ihn zu finden.«
»Ja.« Seine Stimme brach. »Entschuldigen Sie, Veum, ich vergesse wohl – möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Ja, bitte.«
Er ging in die Küche. Kurz darauf kam er mit einer Tasse und einer Thermoskanne zurück. Er goss mir Kaffee ein, goss auch sich selbst heißen dazu, und ließ die Kanne auf dem Tisch stehen.
Er sagte: »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass wir nicht … Sie brauchen nichts zu verschweigen, Veum. Wir ertragen fast alles, jetzt. Es ist merkwürdig. Eltern und Kinder – solange wir noch am Leben sind, dann ertragen wir uns oft fast nicht, aber sobald einer von uns tot ist, sind wir in der Lage, fast alles zu verzeihen. Nicht wahr?«
»Das ist sicher richtig. Aber wie gesagt – tja, Sie können es ja selbst beurteilen.«
Dann erzählte ich ihm
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