Dornroeschenmord
Tod der Frauen verursacht hatte. Das hatte die Autopsie zweifelsfrei ausgeschlossen. Aber niemand hatte bisher daran gedacht, daß auch körpereigene Stoffe – überdosiert – tödlich sein können. Insulin zum Beispiel. Der Körper absorbierte es sofort, und schon Sekunden später war es nicht mehr nachweisbar.
Wie elektrisiert sprang Christoph auf. Er war felsenfest davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein: Es mußte eine Einstichstelle geben. Es war schon nach Mitternacht, doch in diesem Moment war die Zeit bedeutungslos für ihn. Er eilte durch die verlassenen, in fahles Licht getauchten Gänge und öffnete eine der hinteren Türen.
Was bei einem Fremden kaltes Grausen hervorgerufen hätte, nahm Christoph überhaupt nicht mehr wahr. Lautlos krochen zwei unförmige Schatten über den Boden des Wassertanks vor dem Kühlraum. Seit Jahren schon – niemand erinnerte sich genau, wie lange – vegetierten dort zwei monströse Wasserschildkröten. Wer sie angeschafft hatte und warum, wußte man nicht. Wenn die Arbeit sich häufte, kam es vor, daß man innere Organe der Bequemlichkeit halber zu den Schildkröten warf, anstatt sie wieder in die obduzierten Körper einzufügen. Das Schnappen nach dem Fleisch war die einzige Bewegung der beiden Reptilien, die ansonsten apathisch und mit halbgeschlossenen Augen in ihrem Terrarium lagen.
Christoph ging an ihnen vorbei und öffnete zielstrebig die vierte der sechs Kühlkammern. Der Körper von Elisabeth Heller auf der metallenen Bahre war bleich und wächsern, doch trotz der schwarzen Naht und der Totenflecken, die ihren Leichnam blau-violett überzogen, konnte man ihre einstige Schönheit erahnen. Nur der zarte Rosenduft war inzwischen verflogen und hatte einem süßlichen Verwesungsgeruch Platz gemacht.
Christoph zog dünne Gummihandschuhe über und stülpte sich den Mundschutz vors Gesicht. Mit einem speziellen Vergrößerungsglas untersuchte er Zentimeter für Zentimeter die Haut der Toten. Er fand nichts, was seinen Verdacht bestätigt hätte. Während er die Frauenleiche behutsam auf den Bauch drehte, streifte eine Strähne ihres langen, schwarzen Haars über seinen Arm und verfing sich an seiner Armbanduhr.
Für Christoph hatte diese Berührung nichts Zufälliges, sie schien ihm eine Botschaft zu sein. Vorsichtig löste er die Locke und schob gleichzeitig die schwarze Mähne aus ihrem Nacken. Wieder beugte er sich suchend über die weiße Haut. Direkt unter dem Haaransatz, in der Mitte des Genicks, wurde er fündig: eine millimetergroße Öffnung der Haut.
Mit Hilfe einer Spezialsonde untersuchte er die Tiefe des Einstichkanals und machte eine merkwürdige Entdeckung. Es handelte sich nicht um einen belanglosen Einstich in die Epidermis, vielmehr hatte eine Nadel sämtliche Hautschichten durchdrungen und war tief ins Stammhirn gelangt. In der unteren Schädelhöhle lag das Kontrollzentrum für Atmung und Kreislauffunktionen. Die Zerstörung dieses zentralen Punkts führte zu einem Kreislaufzusammenbruch und schließlich zu Herzversagen.
Er vermutete, daß diese Art von tödlicher Verletzung nur durch die professionelle Handhabung einer Akupunkturnadel möglich war – und durch genaue Anatomiekenntnisse. Grasser beherrschte die chinesische Heilkunst perfekt, das hatte Christoph im Polizeibericht gelesen. Was ihn allerdings noch mehr beunruhigte: Auch Dorothee beschäftigte sich mit Akupunktur.
Christoph wußte, was zu tun war. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
Nachdenklich blickte Mandy auf die leere Wurstpelle, die vor ihr auf dem großen Steingutteller lag. Fast schämte sie sich ihrer Unmäßigkeit, denn sie hatte im Lauf des Abends tatsächlich – Dorothee hatte sich wie immer mit einigen Salatblättchen begnügt – einen kompletten Ringel fetter Pfälzer Leberwurst vertilgt, dazu ein halbes Glas Senfgurken und mindestens sechs Scheiben frisches Bauernbrot. Es war köstlich gewesen, aber brauchte sie sich nach dieser Völlerei darüber zu wundern, daß sie das Gefühl hatte, in ihrem Magen lagere ein Sack Zement?
Reuelos schmatzte sie noch einmal vor sich hin und ließ die Reste ihrer Brotzeit, die jeden Maurer satt gemacht hätte, im Abfalleimer verschwinden, als es Sturm läutete. Frederick – kam er womöglich doch noch? Für einen Augenblick zog sie in Erwägung, schnell das Licht zu löschen und sich mucksmäuschenstill zu verhalten, doch dann siegte die Neugier.
Sie schlich zur Tür und spähte durch den Spion. Christoph! Um diese
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