Dornroeschenschlaf
dem Gästezimmer in die Reinigung gegeben hatten. Mariës Stimme hörte sich an wie in Trance, als sei sie immer noch halb im Reich der Träume. Ihre müden Augen, die in weite Ferne zu blicken schienen, waren wunderschön. Ganz sanft und freundlich wollte ich zu ihr sein. »Da braut sich ganz schön was zusammen.« Ich ging zu dem Fenster, das Marië gegenüber lag, und zog den Vorhang auf. Der Raum war plötzlich von einer diffusen Helligkeit erfüllt. Ich blickte hoch zu den Wolken. »Bald wird es wohl anfangen zu regnen oder schneien.«
Da sprang Marië urplötzlich auf und stierte mich mit gerunzelter Stirn an. Ihre Augen wirkten wie die einer Schwachsinnigen. Eine schreckliche Angst überfiel mich.
»Was ist los? Was hast du?« Mir schien, daß Marië meine eigene Angst vollständig in sich aufsog. Es war schon lange her, daß sie solch seltsame Zustände an den Tag gelegt hatte.
»Moment mal«, sagte sie und ergriff meine Hände, die vorhin das Kind berührt hatten. Dann schaute sie verdutzt zu mir hoch: »Du hast Yoshihiro getroffen?« Sie sprach leise, so unglaublich leise, daß ich es gerade noch verstehen konnte. Ich schauderte und stieß ihre Hände von mir, schüttelte sie regelrecht ab.
»N-nein«, brachte ich mit komischer Stimme eben noch hervor.
»Mensch, was red ich bloß! Klar, du hast ihn nicht getroffen. Im Aufwachen hab ich alles mit dem Traum durcheinander gebracht, den ich gerade hatte.« Marië rieb sich die Schläfen.
»Yoshihiro ist schon lange tot«, sagte ich.
»Ich weiß«, antwortete Marië wieder ganz normal.
»Aber ich hab es geträumt, gerade eben. Im Traum sah ich, wie du Yoshihiro triffst und mit ihm redest. An einem irgendwie … hellen Ort, wie in einer Empfangshalle.«
»Ach«, meinte ich, ohne weiter darauf einzugehen. Genau in diesem Augenblick merkte ich, wie sich in meiner Brust ganz langsam etwas zu lösen begann.
»Sieh nur! Es hat ja wirklich angefangen zu regnen«, sagte Marië und blickte zum Fenster hinaus.
Der Himmel war düster. Ich hörte den Regen in dicken Tropfen auf die Stadt niederprasseln. Der dunkle, unglaublich schwere graue Himmel zog sich bis in weite Ferne. Ob die Maschine schon gestartet war? Oder ob sie sich gerade in der Abfertigungshalle unterhielten, die amerikanische Familie, die ich niemals wiedersehen würde? Im unaufhörlichen Geräuschpegel und grellen, sich auf dem weißen Bodenbelag spiegelnden Licht – der gleichen Szenerie wie damals, als wir Yoshihiro verabschiedet und auch wieder abgeholt hatten. Um es mir besser vorstellen zu können, kramte ich diese Szenen aus meinem Gedächtnis hervor.
»Heute abend wird es bestimmt schneien, Marië. Meine Mutter kann ja bei euch anrufen, dann bleibst du über Nacht.«
»Hm, soll ich?« meinte sie mit dem Rücken zu mir und schaute in den Regen hinaus. Leise verließ ich den Raum und schloß die Tür.
Da ich gerade mein Geld zurückbekommen hatte, spannte ich den Schirm auf und ging einkaufen.
An regnerischen Nachmittagen sind Kaufhäuser wundersam hell und warm, und ein feuchter Geruch hängt in der Luft. Ich ging in die Buchabteilung, kaufte jede Menge Bücher und dann noch ein paar CDs. Überall war es leer und ruhig, alle Abteilungen waren in bester Ordnung. Die Kundschaft war dünn gesät, und selbst das Verkaufspersonal wirkte unaufdringlich.
Weil ich immer noch Geld übrig hatte, ging ich nach einem Tee weiter, um mir ein Oberteil zu kaufen. Ich fand eins, das mir besonders gut gefiel, und war bester Dinge, als ich auf dem Weg zu den Aufzügen an der Wäscheabteilung vorbeikam. Marië schläft ja heute nacht bei uns, fiel mir plötzlich ein, und ich beschloß, ihr den Schlafanzug mitzubringen, der vorn in der Abteilung dekoriert war: Er war dunkelblau, gesteppt und sah wundervoll warm aus! Selbst wenn sie mitten in der Nacht plötzlich auf den Gedanken kommen sollte, sich einen Mantel überzuwerfen und loszuziehen, würde sie sich in diesem Ding nicht erkälten.
»Ist es ein Geschenk?« fragte die Verkäuferin.
»Ja«, antwortete ich, und sie band mir eine rote Schleife um das Pyjamapaket.
Marië schläft immer in so dünnen Sachen, daß es einen fröstelt. Mir fiel auf, daß ich so ein Bild von ihr hatte. Ja, wahrscheinlich wollte ich ihr deshalb diesen Schlafanzug schenken.
Bald nachdem Yoshihiro gestorben war, lief Marië von zu Hause weg.
Das war jedoch bestimmt keine Rebellion dagegen, daß ihre Eltern, die ja mit ihrer Beziehung zu Yoshihiro nicht
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