Dornroeschenschlaf
einverstanden gewesen waren, sie nun richtig dazu drängten, unter dem Vorwand einer »Blinddarmreizung« eine Woche mit der Arbeit zu pausieren. Und auch nicht gegen ihren egoistischen Wunsch, Marië solle die Sache mit Yoshihiro einfach vergessen. »Ich war nur müde«, hatte Marië mir später erzählt. Ich glaube, daß das stimmte. Sie hatte sich einfach nicht im geringsten in die Lage ihrer bedauernswerten Eltern versetzt. Damals hatte ich Angst davor, selbst ständig in Tränen auszubrechen, Angst davor, neben meinen in Trauer versunkenen Eltern noch jemanden trösten zu müssen. Deshalb hatte ich Marië nicht besucht. Selbst als ich von ihrem Weglaufen hörte, hatte ich mir keine großen Sorgen gemacht … Nein, ich hatte einfach keine Kraft mehr gehabt, mich auch noch um sie zu kümmern.
Erst nachdem eine Woche vorübergegangen war und Mariës Mutter schon wieder anrief, halb verrückt vor Angst, setzte ich mich in Bewegung. Denn ich ahnte, wo meine Cousine sein könnte.
Es war schon fast Frühling. Ein Nachmittag, an dem die Sonne warm schien und der Duft von Blumen in der Luft lag. Ohne Jacke stieg ich in den Zug.
Um sich heimlich treffen zu können, hatten Marië und Yoshihiro in der Nachbarstadt ein kleines Apartment gemietet. Sie kann eigentlich nur dort sein, dachte ich. – Und wenn sie tot ist? Das ging mir im Rattern des Zuges immer wieder durch den Kopf. Vor den Fenstern flog die frühlingsmilde Landschaft vorbei, auf den Gesichtern der Fahrgäste, die gedankenverloren vor sich hin blickten, lag ein friedlicher Ausdruck. Ob ich wohl sehr traurig sein würde, wenn ich zu spät käme und nur noch auf Mariës Leiche stoßen würde …? Zarte Sonnenstrahlen durchzogen den schaukelnden Wagen. Nein, ich würde nicht traurig sein, jedenfalls nicht besonders. Das hatte ich damals gedacht. Warum, kann ich mir bis heute nicht erklären. Aber damals hatte ich wirklich so empfunden. Ich hatte alles ganz klar gesehen. Und ich meinte, Mariës Wahl – welche auch immer – verstehen zu können.
Aber – war das wirklich der Grund gewesen?
Ich sagte dem Hausmeister, daß ich die Schwester von Yoshihiro sei, ließ mir den Wohnungsschlüssel geben und fuhr mit dem kriechenden Fahrstuhl hoch. Ich klingelte, doch keiner kam zur Tür. Also schloß ich auf und ging hinein. Alle Jalousien waren geschlossen. Es war dunkel und ziemlich kalt. Die Eiseskälte, die in der Wohnung herrschte, kroch mir die Beine hoch. So schreckliche Angst hatte ich nie zuvor verspürt. Mit der festen Erwartung, auf Mariës Leiche zu stoßen, tastete ich mich Schritt für Schritt vorwärts. Bald hatten sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt. Schließlich entdeckte ich sie in eine Wolldecke gewickelt.
Marië atmete. Ihr Atmen hörte sich ganz gesund an, Medikamente hatte sie also nicht genommen. Ich rüttelte sie wach. Unwillig rieb sie sich die Augen. Ich war schockiert, weil ihr Arm aus einem kurzärmeligen T-Shirt herausschaute. Bei genauem Hinsehen bemerkte ich, daß sie unter der Wolldecke nur Slip und T-Shirt anhatte, als würde sie mitten im Sommer in einem Ferienort ein Mittagsschläfchen halten.
»Bist du etwa in dem Aufzug hierher gekommen, Marië?« fragte ich. Sie brummelte ein »Nee« und deutete auf den Fußboden. Vom Mantel über den Pulli bis zu den Strümpfen – alles lag verstreut herum.
Danach verstummte sie und war völlig abwesend, wie unter Schock.
»Laß uns nach Hause gehen, Marië«, sagte ich. »Ich bitte Mutter, bei euch anzurufen. Wenn du willst, kannst du dich bei uns im Gästezimmer vergraben und allein sein. Du brauchst auch keinem die Tür aufzumachen.«
Marië antwortete nicht. Weil es zu dunkel war, konnte ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Aber ihre völlige Gefühlskälte ließ mich schnell handeln. Ich zog ihr nur den Mantel über, raffte die anderen Kleidungsstücke zusammen und verließ mit ihr die Wohnung. Mit einem Taxi fuhren wir nach Hause. Unterwegs blickte sie ein paarmal zurück. Mit unbewegten Augen starrte sie in die Gegend, die wir hinter uns ließen. Wonach sie sich umsah, wußte ich nicht.
Marië bestand eigensinnig darauf, einige Zeit nicht nach Hause zurückzugehen. Deswegen und aufgrund der Überredungskünste meiner Mutter willigten ihre Eltern schließlich ein. Es wurde beschlossen, daß sie eine Weile bei uns im Gästezimmer wohnen sollte.
Ganz allein wickelte ich alle Formalitäten zur Auflösung der Wohnung in dem Apartmenthaus ab, von der nur wir drei –
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