Dornteufel: Thriller (German Edition)
nickte. »Genau das Gleiche. Aber ich verstehe es nicht.«
»Ich auch nicht.« Kamal zog sein Hemd wieder herunter. »Ich weiß nur eins: Spätestens wenn wir in Hamburg sind, will ich wissen, was hier los ist.«
»Das kann dauern«, meinte Irfan bitter.
»Was soll das heißen?«
»Ist dir nichts aufgefallen? Wir fahren jetzt nach Süden, jedenfalls ungefähr in diese Richtung.«
»Wie kommst du darauf?«
Irfan deutete auf das kleine Fenster. »Ich beobachte die Sonne. Und außerdem wird es wärmer. Um diese Jahreszeit müsste es aber kühl werden, wenn man gen Norden fährt.«
»Das kann nicht sein. Du täuschst dich. Das ist wahrscheinlich die Heizung …«
»Mach dir nichts vor, Kamal. Erinnerst du dich an den Lärm und das Licht neulich in der Nacht?«
»Schon. Aber was soll das gewesen sein?«
»Ich glaube, wir haben den Suezkanal passiert und befinden uns jetzt im Roten Meer. Möglicherweise sind wir auf dem Weg in den Indischen Ozean.«
»Was bedeutet das?«, fragte Kamal verunsichert. »Dass sie uns anlügen«, antwortete Irfan. »Es bedeutet, dass wir nicht nach Hamburg fahren.«
P ARIS , F RANKREICH
Die Hausverwaltung hatte einen Wachdienst beauftragt, solange noch keine neue Concierge gefunden war. Vielleicht war das mit dem professionellen Objektschutz auch eine Dauerlösung? Sie würde jedenfalls nicht in diese Wohnung hier unten einziehen wollen, in der die Vormieterin ermordet worden war, sinnierte Rebecca Stern, während sie zum dunklen Fenster in der Wand schaute. Ein Uniformierter der Wachfirma stand nun den ganzen Tag in der Halle herum und kontrollierte jeden, der hineinwollte. Er hatte eine Plastikbox bei sich, in der er die Post und die Zeitungen sammelte, um einen prüfenden Blick darauf zu werfen, bevor er sie an die Mieter weitergab.
Was für ein Job, dachte Rebecca zum wiederholten Mal, als sie ihren Ausweis vorzeigte, der vom Wachmann gewissenhaft studiert wurde, genau wie an den vorherigen Tagen auch. Anschließend steckte sie ihn wieder ein und nahm ihre Briefe entgegen. Oberhalb seines Hemdkragens und an den Handgelenken hatte der Mann Tattoos, wahrscheinlich war sein ganzer Oberkörper damit geschmückt. Von der Statur her hatte er Ähnlichkeit mit einem Orang-Utan, nur dass er ein klein wenig spärlicher behaart war. Doch solange er sie vor einem Kretin wie Gellert beschützte, war Rebecca alles recht. Sie lächelte ihn an und steckte ihm einen Geldschein zu. Es konnte nicht schaden, wenn er sie besonders im Auge behielt.
Sie stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, schloss auf und ging hinein. Hastig warf sie die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum und legte die Sicherheitskette vor. Dann kickte sie die hohen Pumps von den Füßen. Ihre Kopfhaut spannte, und sie hatte das Bedürfnis, sich zu kratzen. Alles psychosomatisch , dachte sie müde. Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut, und das spüre ich auch.
Sie warf die Post auf den Esszimmertisch und ging einmal durch die Wohnung, um die Thermostat-Ventile an den Heizkörpern höher zu drehen. Als sie zum Esstisch zurückkehrte, nahm sie erneut ihre Briefe zur Hand. Ein gefütterter Umschlag aus braunem Papier fiel ihr besonders auf. Sie fühlte durch die Noppenfolie hindurch, dass etwas Flaches, Hartes darin war. Ihre Adresse war auf einem weißen Aufkleber gedruckt, doch es gab keinen Absender … Ungeduldig riss sie den Umschlag auf. Was sie an ihrer derzeitigen Situation so zermürbend fand, war nicht die Gefahr selbst, sondern die ständige Erwartung, dass gleich etwas Furchtbares passierte. Sie sah schon Gespenster und hatte das Gefühl, hinter jeder Straßenecke würde Gellert lauern. Einmal hatte sie sogar im Bürogebäude anstelle des Fahrstuhls die sechs Treppen nach oben genommen, nur weil ein unbekannter Mann in der Kabine gestanden hatte. Doch es war ein Bewerber auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch gewesen, wie sie später erfahren hatte …
Rebecca schüttete den Inhalt des Umschlags auf die Tischplatte, nicht in ihre Hand. Es war ein silberfarbener, rechteckiger Anhänger an einem Lederband. Der Knoten war noch vorhanden, aber das braune Band war gerissen. Sie nahm den Anhänger und betrachtete ihn von allen Seiten. Als sie die Aufschrift las, schnappte sie nach Luft: Von Ideen kann man nicht leben: man muss etwas mit ihnen anfangen. Das war Pauls Lieblingszitat – ein Satz von Alfred North Whitehead, einem berühmten britischen Philosophen und Mathematiker. Und es
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